Warum ich mich beim Lesen von Lize Spits „Und es schmilzt“ erschrocken habe

Ich möchte ehrlich mit dir sein, so wie ich es immer bin. Der Debütroman „Und es schmilzt“ von Lize Spit ist kein einfaches Buch. Wenn du also nicht interessiert bist an komplexen Romanen mit viel Inhalt, kannst du diesen Artikel gleich wieder schließen. Drück einfach den „Zurück-Button“ und such dir eine andere Rezension aus. Du findest sicher etwas. Wenn du allerdings schon kampferprobt hinsichtlich Literatur bist. Du vielleicht schon „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara oder irgendeines der Selbstgeständnisbücher von Karl Ove Knausgard gelesen hast, dann schaffst du auch „Und es schmilzt“ von Lize Spit. Du schaffst das locker.
Und es schmilzt
Der Roman „Und es schmilzt“ beginnt ganz harmlos. Eva bekommt eine Einladung für die Einweihung einer vollautomatischen Melkanlage in ihrem Heimatdorf. Der Bauer, dem die Melkanlage gehört ist ihr Jugendfreund Pim und neben der Feier zur neuen Anlage wird auch seines toten Bruders Jan gedacht. Wie gesagt, harmlos – eigentlich fühlt es sich an wie eine Einladung zum Klassentreffen. Etwas widerwillig macht sich Eva auf dem Weg nach Bovenmeer. Im Gepäck befindet sich ein riesiger Eisblock und als Leserin weiß ich erstmal nicht, was dieser Eisblock da im Auto zu suchen hat, der allmählich zu schmelzen beginnt.
Im Auto denkt Eva dann immer wieder über die Vergangenheit nach. Sie erzählt uns ihre Geschichte von der Kindheit an in Rückblenden. Es geht um die alkoholsüchtige Mutter und Jan, Pims Bruder, der gestorben ist. Es geht um die Spielchen von Pim, Laurens und ihr. Alle Episoden von Evas Kindheit kommen wieder hoch und setzen sich sehr langsam zu einem Bild zusammen.
Erste Langeweile, dann Schock
Wenn ich schreibe, dass sich die Geschichte von Eva sehr langsam zusammensetzt, dann meine ich das tatsächlich genauso. Nie verrät die Erzählerin genug, etwas bleibt immer im Dunkeln und als Leser weiß man, dass noch mehr kommen muss. Dieses Vorgehen macht sich am Ende von „Und es schmilzt“ bezahlt, aber bis dahin macht Lize Spit es ihren Lesern nicht einfach. Wenn ich so über die Langeweile, die mir die manchmal endlosen Kindheitserzählungen bereitet haben, nachdenke, dann fand ich die ersten 300 Seiten des Buches recht langweilig und habe immer nur widerwillig weitergelesen, weil „Und es schmilzt“ mich einfach nicht so richtig fesseln konnte.
Irgendwie habe ich natürlich geahnt, dass noch etwas ganz Schlimmes passiert sein musste. Eva hat ihre Andeutungen ja nicht sein lassen können. Aber nach den ersten 100 Seiten dachte ich eher an Evas kaputte Familie mit dem leicht gewalttätigen Vater und der Mutter, die 3 Mal am Tag im Hühnerstall kontrollieren geht, ob die Hühner ein Ei gelegt hätten. Das macht sie natürlich, um sich in Ruhe einen Schluck Wein oder Schnaps genehmigen zu können. Ich war auch genervt von Evas Freunden Pim und Laurens. Für mich waren das keine richtigen Freunde und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum Eva das nicht auch einsieht und sich jemand anderen zum Spielen sucht.
Aber dann kam das letzte Viertel des Buches und meine gelangweilte Genervtheit hat sich zunächst in Beklemmung und dann am Ende in Schock umgewandelt. Ich kann dir natürlich nicht verraten, was passiert ist. Das wäre unfair. Meistens konnte ich nicht mehr als 40 Seiten am Stück lesen und dann habe ich mit einem Schlag 150 Seiten bis zum Ende lesen müssen. Wirklich müssen. Als ich das Buch dann beendet hatte, konnte ich nicht schlafen. Meine Gedanken kreisten immer nur um Eva und dem, was sie erlebt und getan hat. Ich wollte darüber reden, habe sogar meinen Freund wachgehalten. Lize Spit hat mir mit „Und es schmilzt“ einen Schlag ins Gesicht verpasst und ich bin mir sicher, dir wird es auch so gehen.
Lize Spit: Und es schmilzt. S. Fischer Verlag. ISBN: 978-3103972825. 512 Seiten. 22,00 €.
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Wortkulisse
und wie findest du das buch ? was hat es dir gebracht? ich habe das buch gerade zu ende gelesen – bei der schlüsselszene habe ich vor wut geheult. ich konnte auch nicht schlafen. die autorin kann gut schreiben, keine frage – aber wozu soll dieses buch sein? menschen, denen so etwas passiert, und das passiert, bringt es nichts – ausser vielleicht: ah gut, es geht auch anderen so. und was machen die anderen? soll ich das, was da beschrieben wird, etwa auch machen? ist das mein ausweg? ich finde das buch voyeuristisch. es ist wie ein unfall mit toten… Weiterlesen »
Hallo Jacky, warum ein Buch geschrieben wurde, kann dir letztendlich wohl nur der Autor sagen. Häufig ist es so, dass der Autor eine Geschichte hat, die irgendwie raus muss. Das kann selbsterlebt sein, muss aber nicht. Und es ist so, dass moderne Autoren nie alles dem Leser verraten. Wenn sie gut sind, dann bekommen sie es sogar hin, mit sehr wenigen Sätzen, das Nichtgesagte dennoch im Leser wirken zu lassen. Auf Ernest Hemingway geht der erzähltheoretische Ansatz des Eisbergmodells zurück, vielleicht hilft dir das. 🙂 Persönlich hat „Und es schmilzt“ mir gezeigt, wie beklemmend Literatur sein kann. Die ersten 2/3… Weiterlesen »