Am vergangenen Mittwoch war ich mit meinem Freund auf einer Lesung zum Thema Mörderinnen in Chemnitz. Ich hatte die Karten für die Lesung wenige Tage zuvor mit gemischten Gefühlen gekauft: Zum einen freute ich mich auf das spannende Thema, zum anderen hatte ich aber doch Bedenken, ob meinem Freund diese Lesung gefallen würde oder ob er sich gnadenlos langweilen würde. Veikko Bartel ist in Karl-Marx-Stadt (jetzt Chemnitz) geboren und so war die Brücke recht schnell geschlagen. Zwischen 1996 und 2011 arbeitete Veikko Bartel als Rechtsanwalt, ab 1998 sogar als Strafverteidiger. Während dieser Zeit verteidigte er in 30 Mordfällen, was recht viel ist. Auf Grundlage dieser Erfahrungen schrieb er das Buch „Mörderinnen – Fälle aus der Praxis eines Strafverteidigers“.
Alles was bleibt
Schon der Titel des Buchs hätte nicht passender gewählt werden können: „Alles was bleibt“. Aber was bleibt nach dem Tod? Häufig eine Leiche und die Erinnerungen an den Toten. Und beiden Themen widmet sich Sue Black. Das mochte ich besonders an diesem Buch. Es geht nicht nur um die knallharten Fakten, sondern auch um den Menschen, der einmal gelebt hat und jetzt tot ist. Die Autorin schreibt also auch über das Erleben des Todes ihrer Verwandten und wie sie damit umgegangen ist. Es geht auch um die Bedeutung von Sterbehilfe und die verschiedenen Meinungen und um den letzten Willen von Toten.
Ebenfalls sehr interessant waren für mich die Ausführungen von Sue Black über Körperspender, also Personen, die ihren Körper für wissenschaftliche Zwecke spenden. Noch immer werden Körperspenden für die Ausbildung von jungen Medizinern benötigt – es geht also nicht alles am Computer. In diesem Zusammenhang berichtet Sue Black von ihrem eigenen Sezierkurs im Studium. In diesen Monaten baute sie eine regelrechte Bindung zu ihrer Sezierleiche Henry auf. Henry war natürlich nicht sein richtiger Name, denn Körperspender bleiben anonym. Auch nach vielen Jahren im Beruf empfindet sie tiefe Dankbarkeit gegenüber Henry.
Die Arbeit einer forensischen Anthropologin
Aber natürlich ist nicht alles schön am Beruf der forensischen Anthropologin. Hauptsächlich sind forensische Anthropologen damit beschäftigt, die Identität von Menschen festzustellen. Sowohl von Opfern als auch von Tätern. Schließlich kann ein Verbrechen nur aufgeklärt werden, wenn es zur Leiche auch eine Geschichte, eine Person gibt. Manchmal werden Leichen dann auch noch zerstückelt, weil der Täter Panik bekommt und merkt, dass er die Leiche nicht im Ganzen vom Tatort wegtransportieren kann. Gerade Täter, die zum ersten Mal und im Affekt gemordet haben, neigen dann dazu, die Leiche in sechs Stücke zu zerteilen und das passiert oft nicht gerade elegant, weil dabei Knochen zersägt werden müssen. Profis gehen da ganz anders vor und zerteilen die Leiche an den Gelenken ohne allzu große Sauerei. Beim Lesen von „Alles was bleibt“ muss man solche Informationen erstmal setzen lassen. Alles, was Sue Black schreibt, ist furchtbar interessant und spannend, aber manchmal eben auch sehr krass.
Am schlimmsten zu verarbeiten war für mich das Kapitel über Sue Blacks Einsatz im Kosovo, bei dem sie Kriegsverbrechen aufklärte. Dabei ging es nicht um einzelne Tote, sondern um regelrechte Massengräber. Heftige Kost. Sue Black und ihr Team hatten dabei die Aufgabe, die Identität der Leichen festzustellen und die Überreste dann an die Familie zu übergeben – insofern es noch eine Familie gab. Ähnliches Leid erlebte Sue Black dann, als sie Menschen identifizierte, die beim Tsunami in Thailand umgekommen waren.
Eines wird durch „Alles was bleibt“ aber sehr deutlich: Sue Black ist eine bewundernswerte Frau mit enormem Wissen. So schrecklich ihre Erfahrungen manchmal sind, so herzlich und tröstend sind die Worte von Sue Black. Ich für meinen Teil konnte durch „Alles was bleibt“ dem Tod etwas mehr die Hand reichen.
Weitere Bücher über die Arbeit von Forensikern
- Anatomie des Verbrechens: Meilensteine der Forensik von Val McDermid
- Die Zeichen des Todes: Neue Fälle von Deutschlands bekanntestem Rechtsmediziner von Michael Tsokos
Das Rauschen im Bardo
Hans Vollmann ist 46 Jahre alt, hässlich und etwas verbraucht, dennoch heiratet er eine junge und wunderschöne Frau. Diese Hochzeit ist keine Hochzeit aus Liebe, sondern aus pragmatischen Gründen. Aber immerhin bedrängt Hans Vollmann seine Braut nicht, lässt ihr Zeit und über die Monate der Enthaltsamkeit nähern sich die beiden an. Sie werden Freunde, empfinden dann doch so etwas wie Liebe füreinander und letztendlich hatte auch seine Frau den Wunsch nach Lust und Sex. Leider krachte ausgerechnet an dem Tag, an dem sie die Ehe vollziehen wollten, ein Holzbalken auf Hans Vollmanns Kopf und er starb. Aber er kam wieder zu Bewusstsein in einer „Kranken-Kiste“ und seitdem ist Hans Vollmann im Bardo.
Der Begriff Bardo stammt aus dem Tibetischen Buddhismus und bezeichnet das Zwischenreich zwischen Diesseits und Jenseits. Es ist die Zeit zwischen der Loslösung vom bisherigen Leben und dem endgültigen Verschwinden von dieser Welt. George Saunders siedelt den Bardo dem realen Friedhof „Oak Hill Cemetery“ in Washington an und bevölkert ihn mit zahlreichen Geistern wie beispielsweise Hans Vollmann oder William „Willie“ Wallace Lincoln, elfjähriger Sohn des Präsidenten Abraham Lincoln. Auf Willie stoßen die drei Geister Hans Vollmann, Roger Bevins III und Reverend Every Thomas als dieser weinend in seiner „Kranken-Kiste“ erwacht.
Abraham Lincoln ist verzweifelt und voller Trauer als sein Sohn Willie in der Nacht vom 20. Februar 1862 an Typhus stirbt. Lincoln ist so untröstlich, dass er nachts allein auf den Friedhof geht und Willies Leiche aus dem Sarg holt, um ihn anzusehen und zu trauern. Er kann seinen Sohn nicht gehen lassen. Dieser Moment ist zugleich erschreckend, merkwürdig und wunderschön. Diese drei Adjektive stehen aber nicht nur für diesen zentralen Moment der Geschichte, sondern für das gesamte Buch „Lincoln im Bardo“.
Lincoln im Bardo
George Saunders ist ein sehr geschickter Schriftsteller und ich habe noch kein Buch gesehen, was mit „Lincoln im Bardo“ vergleichbar ist. In ersten Erzählstrang erzählen die Geister des Friedhofs wie beispielsweise Hans Vollmann, Roger Bevins III und Reverend Every Thomas die Geschichte und der zweite Erzählstrang besteht aus Zitaten von historischen Büchern über den Bürgerkrieg und Lincoln. Diese Bücher existieren teilweise tatsächlich, aber manche hat George Saunders auch schlicht erfunden. Ich wusste nicht, dass man mit Fake News Stil auch große Literatur schreiben kann. Aber es ist interessant, wie Fiktion und Geschichte nebeneinander stehen und teilweise auch verschmelzen können.
Im Buch „Lincoln im Bardo“ gibt es also keinen Erzähler, sondern eine Kakophonie aus Hunderten Toten und nochmal so vielen Buchzitaten. Es gibt Menschen, die haben die Toten gezählt und kamen auf eine Zahl zwischen 140 und 166. Das ist enorm, aber so gelingt es auch, die ganze Bandbreite der damaligen Gesellschaft auf dem „Oak Hill Cemetery“ in Washington versammeln zu können. Es kommen Fabrikbesitzer, Sklaven und ihre Sklavenhalter, reiche Menschen und Arme, Soldaten, Sexisten, Frauen, Verbrecher und verwöhnte Töchter zu Wort. Für den ersten Moment ist das gewöhnungsbedürftig, aber mit der Zeit war ich als Leserin einfach nur fasziniert von diesem Orchester. Ich kann nicht verstehen, wie George Saunders dieses Buch hatte so schreiben können, dass „Lincoln im Bardo“ kein heilloses Chaos ergibt, sondern ein stimmiges Bild von der verzweifelten Liebe eines Vaters. Ohne Frage ist das eine sehr innovative Erzählkunst.
Über das letzte Ende
Das große Thema von „Lincoln im Bardo“ ist das Loslassen. Da wäre beispielsweise Abraham Lincoln, der seinen toten Sohn nicht loslassen kann und sich zu ihm sogar ins Grab legt. Oder der Geist von Willie, der natürlich auch nicht loslassen kann, solange sein Vater ihm immer wieder verspricht wiederzukommen. Oder auch die Geister um Hans Vollmann, Roger Bevins III und Reverend Every Thomas, die teilweise ahnen, dass sie tot sind, aber doch nicht daran glauben können und keine Ruhe finden. Der Bardo ist eine seltsame Zwischenwelt. Er ist wie ein Bahnhof, an dem keiner wirklich jemals ankommen kann, sich Zuhause fühlen kann. Es ist der Transitpunkt nach – Tja, wohin eigentlich? Und damit wäre ich wieder bei meiner Ausgangsfrage: Was passiert nach dem Tod?
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Diese verflixte Trauer
Es ist 1987 in New York: Der berühmte Maler Finn Weiss stirbt an AIDS. Am meisten trifft dieser Tod seine Nichte June Albus, aus deren Sicht „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ erzählt wird. June ist gerade vierzehn Jahre und sie hatte eine sehr enge Verbindung zu ihrem Onkel Finn. Ständig hat sie ihn besucht und meistens sind sie gemeinsam Essen oder ins Kino gegangen. Zuletzt hat Finn sogar ein Porträt von June und ihrer Schwester Greta gemalt. Viele Sonntage haben sie ihn extra für dieses Porträt besucht und er hat sich Zeit gelassen mit dem Malen. Eigentlich hat er auch ein bisschen getrödelt, damit die Besuche nicht enden.
June ist eine typische Einzelgängerin: Sie hat nicht wirklich Freunde in ihrer Schule und sie möchte es auch nicht. Ihre Eltern sind Steuerberater, die zumindest in einer Hälfte des Jahres kaum daheim sind, weil „Steuer-Saison“ ist und deshalb bemerken diese Junes Eigenarten nicht so sehr. Greta, ihre Schwester, ignoriert June ständig oder macht sich sogar lustig über sie und ist ein wenig gemein – also niemand, mit dem man besonders gern Zeit verbringt. Nur bei Onkel Finn fühlt June sich wirklich verstanden und ernst genommen. Mit seinem Tod hat die Welt, wie June sie kannte, ihr Ende gefunden. Der Schmerz zerfrisst sie und verzweifelt versucht sie, die Erinnerung an Finn und damit auch ihn selbst lebendig zu halten.
Auf der Beerdigung von Onkel Finn sieht June einen jungen Mann in einem blauen Auto, der sich sehr im Hintergrund hält. Junes Eltern wollen diesen Mann nicht auf der Beerdigung sehen, denn sie halten ihn für Finns Mörder – für den Menschen, der Finn mit HIV angesteckt hat. Wenige Tage später klingelt ein Paketbote an Junes Haustür und bringt ein Päckchen vorbei, welches die wunderschöne Teekanne enthält, die Finn June schenken wollte. In der Teekanne befindet sich eine Nachricht von Toby, dem jungen Mann von der Beerdigung und June bemerkt, dass nicht nur sie schrecklich unter dem Verlust leidet.
Sag den Wölfen, ich bin zu Hause
Ich mag den Titel „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“. Er hat etwas von Gefahr, aber auch von Unerschrockenheit und Mut. Immer wieder tauchen im Buch Anspielungen auf Wölfe auf – Wölfe heulen im Wald, ein Wolf ist im Negativraum des Porträts zu sehen und letztendlich benennt Finn sogar das Porträt mit „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“. Die Wölfe, das sind Junes Mitschüler, aber auch manchmal Junes Eltern und definitiv immer ist die Trauer ein Wolf. Wenn Carol Rifka Brunt eines gut kann, dann ist es die Darstellung der Trauer und des Schmerzes. Das macht sie sehr amerikanisch, was manchmal auch etwas von Kitsch hat.
Für Menschen ist es eben schwierig, den Tod zu beschreiben ohne manchmal auch Allgemeinplätze zu verwenden. Mich hat die Beschreibung von Junes Trauer sehr an meine eigene erinnert: Wie ich nach dem Tod meines Opas versucht habe, mich an seinen Dingen oder an den Erinnerungen an ihn festzuhalten, aber davon wurde er eben auch nicht wieder lebendig. Wird es nie mehr werden.
Und dann wäre da noch AIDS.
Aber Tod und Trauer ist nicht das einzige Thema in „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“. Finns HIV-Erkrankung und die Tatsache, dass Finn schwul war und mit Toby zusammengelebt hat, verleihen dem Buch nochmals eine andere Ebene. Ende der Achtziger Jahre war HIV noch ein viel größeres Thema als es heute ist. Die Menschen haben gedacht, sie können sich schon damit anstecken, wenn sie im selben Raum mit dieser Person sind oder von ihr berührt werden. Den Umgang in der damaligen Zeit stellt „Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ sehr gut nachfühlbar dar, wenn beispielsweise Junes Mutter nicht über die AIDS-Erkrankung ihres Bruders reden kann.
Aber auch heute noch ist HIV ein Stigma, wie das Bekenntnis von Conchita Wurst auf Instagram zeigt. Conchita Wurst gab bekannt, dass er HIV infiziert ist und sein Ex-Freund damit gedroht hat, dies zu veröffentlichen, deshalb macht er es lieber selbst. Durch Medikamente können die Viren soweit reduziert werden, dass Betroffene nicht mehr ansteckend sind. Aber das Stigma bleibt in den Köpfen bestehen, weshalb die meisten HIV-Infizierten ihre Krankheit auch heute noch nicht öffentlich machen.
„Sag den Wölfen, ich bin zu Hause“ von Carol Rifka Brunt ist ein Buch zum Mitleiden. Es ist flüssig und leichtverständlich geschrieben, weshalb es sich sehr schnell liest. Manchmal stören mich daran jedoch die kitschigen Elemente, aber wer hat gesagt, dass es einfach ist, über den Tod zu schreiben?
Carol Rifka Brunt: Sag den Wölfen, ich bin zu Hause. Eisele Verlag. ISBN: 978-3961610075. 448 Seiten. 22,00 €.
Wie hoch die Wasser steigen
Wenzel arbeitet auf einer Ölplattform. Das Leben dort zeichnet sich aus durch harte Arbeit und schwere Stürme. Es ist ein entbehrungsreiches Leben und ich hätte es mir nicht ausgesucht. Gemeinsam mit seinem Freund Matyás teilt er sich eine Kabine. Matyás gibt Wenzel Halt im Leben, doch dann stirbt er bei einem Unfall auf der Bohrinsel und seine Leiche wird nie gefunden. Was wird nun aus Wenzel, dem nun auch noch das Letzte im Leben genommen wurde? Er beschließt, zunächst nach Ungarn zu Matyás Eltern zu reisen. Wenzel bricht zu einer Reise zurück ins Leben auf.
„Wie hoch die Wasser steigen“ ist Anja Kampmanns Debütroman, zuvor erschien von ihr 2016 ein Lyrikband mit dem Namen „Proben von Stein und Licht“. Beim Lesen von „Wie hoch die Wasser steigen“ habe ich dem Buch angemerkt, dass es von einer Lyrikerin stammt, denn wer sonst könnte poetischere Sätze schreiben? Diese Art der Sätze war es letztendlich, die mich das Buch haben beenden lassen, auch wenn ich nie wirklich den Einstieg in Wenzels Schicksal gefunden habe.
Die schönsten Sätze aus „Wie hoch die Wasser steigen“
Ein riesiges Wesen hatte alles, was gestern war, fortgerissen. (Aus: „Wie hoch die Wasser steigen“ von Anja Kampmann, Seite 20)
Dann, etwas später, lief leise Musik auf der Straße, war das Dunkel noch immer gleich, war keiner mehr, der zum linken Schrank gehörte oder zu rechten, er stand auf, ging zum Fenster, dann hinaus, und blieb stehen an einer Stelle, an der die Gasse steil abfiel, lange, suchend. (Aus: „Wie hoch die Wasser steigen“ von Anja Kampmann, Seite 34)
Er sah sie fortgehen und sah ihr nach. Gerade jetzt, wo Lidia so zornig war und versuchte, sehr aufrecht davonzugehen, war ihr Schattenriss winzig unter den Bäumen. (Aus: „Wie hoch die Wasser steigen“ von Anja Kampmann, Seite 333)
Warum „Wie hoch die Wasser steigen“ kein Buch für mich ist
Diese schönen poetischen Sätze stehen im ganzen Buch. Auf fast jeder Seite findet sich so eine Perle der deutschen Sprache, nichtsdestotrotz hat mich „Wie hoch die Wasser steigen“ nicht gefesselt. An manchen Tagen musste ich mich zwingen zum Weiterlesen, aber da war eben auch die Neugier, welche Sätze sich Anja Kampmann noch hat einfallen lassen.
„Wie hoch die Wasser steigen“ ist ein sehr diffuses Buch. Es kann sehr gut die dumpfe Trauer, beziehungsweise den betäubten Schreck nach einer Katastrophe vermitteln, aber ich hatte trotzdem keinen Anteil an Wenzels Verlust. Die Satzstellung ist trotz ihrer Schönheit, manchmal nur schwer lesbar. Zehn Satzglieder werden von Kommata getrennt aneinandergereiht und dann soll der Leser noch wissen, was gerade die Aussage des Satzanfangs war. Das ist schwierig. Ebenso schwierig sind die vielen Figuren und Sprachen, die einfach so im Buch auftauchen. Schließlich gibt es keinen richtigen Erzähler. Die Geschichte passiert Wenzel wie das wahre Leben eben ohne Regieanweisungen passiert.
Anja Kampmanns Buch ist anstrengend zu lesen und es ist noch anstrengender, sich in der Geschichte zu recht zu finden. Beim Lesen habe ich keinen Halt in Wenzels Geschichte gefunden, aber vielleicht ist die Zeit für mich und „Wie hoch die Wasser steigen“ noch nicht gekommen.
Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen. Hanser Verlag. ISBN: 978-3446258150. 352 Seiten. 23,00 €.
Weitere Beiträge zum Buch
Videolesung auf Zeit.de
Und es schmilzt
Der Roman „Und es schmilzt“ beginnt ganz harmlos. Eva bekommt eine Einladung für die Einweihung einer vollautomatischen Melkanlage in ihrem Heimatdorf. Der Bauer, dem die Melkanlage gehört ist ihr Jugendfreund Pim und neben der Feier zur neuen Anlage wird auch seines toten Bruders Jan gedacht. Wie gesagt, harmlos – eigentlich fühlt es sich an wie eine Einladung zum Klassentreffen. Etwas widerwillig macht sich Eva auf dem Weg nach Bovenmeer. Im Gepäck befindet sich ein riesiger Eisblock und als Leserin weiß ich erstmal nicht, was dieser Eisblock da im Auto zu suchen hat, der allmählich zu schmelzen beginnt.
Im Auto denkt Eva dann immer wieder über die Vergangenheit nach. Sie erzählt uns ihre Geschichte von der Kindheit an in Rückblenden. Es geht um die alkoholsüchtige Mutter und Jan, Pims Bruder, der gestorben ist. Es geht um die Spielchen von Pim, Laurens und ihr. Alle Episoden von Evas Kindheit kommen wieder hoch und setzen sich sehr langsam zu einem Bild zusammen.
Erste Langeweile, dann Schock
Wenn ich schreibe, dass sich die Geschichte von Eva sehr langsam zusammensetzt, dann meine ich das tatsächlich genauso. Nie verrät die Erzählerin genug, etwas bleibt immer im Dunkeln und als Leser weiß man, dass noch mehr kommen muss. Dieses Vorgehen macht sich am Ende von „Und es schmilzt“ bezahlt, aber bis dahin macht Lize Spit es ihren Lesern nicht einfach. Wenn ich so über die Langeweile, die mir die manchmal endlosen Kindheitserzählungen bereitet haben, nachdenke, dann fand ich die ersten 300 Seiten des Buches recht langweilig und habe immer nur widerwillig weitergelesen, weil „Und es schmilzt“ mich einfach nicht so richtig fesseln konnte.
Irgendwie habe ich natürlich geahnt, dass noch etwas ganz Schlimmes passiert sein musste. Eva hat ihre Andeutungen ja nicht sein lassen können. Aber nach den ersten 100 Seiten dachte ich eher an Evas kaputte Familie mit dem leicht gewalttätigen Vater und der Mutter, die 3 Mal am Tag im Hühnerstall kontrollieren geht, ob die Hühner ein Ei gelegt hätten. Das macht sie natürlich, um sich in Ruhe einen Schluck Wein oder Schnaps genehmigen zu können. Ich war auch genervt von Evas Freunden Pim und Laurens. Für mich waren das keine richtigen Freunde und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum Eva das nicht auch einsieht und sich jemand anderen zum Spielen sucht.
Aber dann kam das letzte Viertel des Buches und meine gelangweilte Genervtheit hat sich zunächst in Beklemmung und dann am Ende in Schock umgewandelt. Ich kann dir natürlich nicht verraten, was passiert ist. Das wäre unfair. Meistens konnte ich nicht mehr als 40 Seiten am Stück lesen und dann habe ich mit einem Schlag 150 Seiten bis zum Ende lesen müssen. Wirklich müssen. Als ich das Buch dann beendet hatte, konnte ich nicht schlafen. Meine Gedanken kreisten immer nur um Eva und dem, was sie erlebt und getan hat. Ich wollte darüber reden, habe sogar meinen Freund wachgehalten. Lize Spit hat mir mit „Und es schmilzt“ einen Schlag ins Gesicht verpasst und ich bin mir sicher, dir wird es auch so gehen.
Lize Spit: Und es schmilzt. S. Fischer Verlag. ISBN: 978-3103972825. 512 Seiten. 22,00 €.
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Kejas Buchblog
Wortkulisse
Die Rosenbaum-Doktrin
Der Großteil der 5 Texte aus der Textsammlung „Die Rosenbaum-Doktrin“ von Wolfgang Herrndorf wurde schon einmal abgedruckt und ist so nicht wirklich neu. Wer also als großer Fan von Wolfgang Herrndorf Überraschungen erwartet, der wird enttäuscht werden. Nichtsdestotrotz habe ich das kleine Buch gern gelesen – 64 Seiten Umfang und auf jeder Seite gibt es den „Sound“ von Herrndorf.
Den Anfang des Buches macht der gleichnamige Text „Die Rosenbaum-Doktrin“, in welchem Wolfgang Herrndorf ein fiktives Interview mit dem fiktiven Kosmonauten Friedrich Jaschke, der angeblich gemeinsam mit Sigmund Jähn für den Weltraumflug ausgebildet wurde. Im Kern des Interviews steht die Rosenbaum-Doktrin, die nach dem Kybernetiker Leonid Rosenbaum benannt wurde, der aber nie existierte.
Die Rosenbaum-Doktrin ist eine Verhaltensanweisung, wenn ein Kosmonaut auf etwas Überirdisches trifft. Friedrich Jaschke drückt dies so aus: „Es gibt nichts Unerklärliches, konkret hieß das, in der sowjetischen Fachsprache: Wenn da oben etwas Unerklärliches auftaucht, also was auch immer – Außerirdische – erschießen wir das mit der Bordkanone und tun so, als hätten wir nichts gesehen. (lacht) Das war die Rosenbaum-Doktrin.“ (Aus: „Die Rosenbaum-Doktrin“ von Wolfgang Herrndorf, Seite 22 f.) Am Ende hat Friedrich Jaschke einige seltsame Erklärungen für Ereignisse der Raumfahrt und als Leser lässt man sich davon nur zu gern einlullen.
Klagenfurt
Neben dem Text „Die Rosenbaum-Doktrin“ hat es mir der Artikel „Klagenfurt“ aus dem Buch besonders angetan. Dieser Artikel wurde zuerst im Juli 2004 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht, etwa 2 Wochen nach der Preisvergabe des Bachmann Preises in Klagenfurt 2004. Ebenda wurde Wolfgang Herrndorf für seinen Vortrag von „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ der Publikumspreis des Ingeborg-Bachmann-Preises verliehen. Es ist ein herrlich böser Text über den Literaturbetrieb und das Gebaren bei Literaturpreisen und wird umso ironischer, wenn man weiß, dass dieser Text auf der Realität beruht, weil Wolfgang Herrndorf tatsächlich da war und gewonnen hat. Ich habe viel gelacht.
Im Text beschreibt Wolfgang Herrndorf, dass er unbedingt nach Klagenfurt wollte. Warum weiß er nicht und es ist eigentlich auch egal. Viel wichtiger ist, dass alles perfekt sein musste. 6 Monate vor dem Wettbewerb rief Wolfgang Herrndorf beim Organisationskomitee an und wollte wissen, welche Farbe der Hintergrund beim Wettbewerb haben wird, damit er seine Kleidung darauf abstimmen kann. Zweitrangig war für ihn, dass er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal einen Text für den Wettbewerb eingereicht hatte. Er erhielt keine Auskunft. Also machte er weiter mit dem Anfang des Textes. Dafür wurden alle Wettbewerbsbeiträge der letzten Jahre ausgewertet und er kam zu folgendem Entschluss: „Ein guter Beginn war eine Landschaftsbeschreibung, wo ein Schwarm Vögel in schwerem Metaphernsalat über den Himmel flog.“ (Aus: „Die Rosenbaum-Doktrin“ von Wolfgang Herrndorf, Seite 37) Das waren natürlich nicht die einzigen Einfälle von Wolfgang Herrndorf zur Satire des Bachmann-Preises.
Andere Texte
Die anderen Texte im Buch „Die Rosenbaum-Doktrin“ sind nicht schlecht, aber nicht so brillant. Das Buch endet mit einem Out Take aus „Tschick“, der für mich ganz amüsant war, aber zu recht keinen Eingang ins Buch gefunden hat, weil er im Grunde nicht viel zu sagen hat. Nachdem ich die 64 Seiten des Buches in einem Rutsch gelesen hatte, wurde mir wieder schmerzlich bewusst, dass ich einen großen Autor verpasst habe. Er fehlt.
Wolfgang Herrndorf: Die Rosenbaum-Doktrin: und andere Texte. Rowohlt Verlag. ISBN: 978-3499291296. 64 Seiten. 8,00 €
Kommentierfrage: Kennst du Wolfgang Herrndorf und fehlt er dir auch?
Heinz lebt im Paradies?
Viel gibt es nicht mehr in Deutschland. Das Land ist zerstört und kontaminiert, gefährliche Banden rauben die letzten Überlebenden aus und zu guter Letzt kreiseln Drohnen am Himmel, die auf Menschen feuern. Heinz hat es gut getroffen in diesem Deutschland, denn er lebt mit einer kleinen Gruppe in einem Alpenreservat, dass noch intakt ist. Das Leben ist mühevoll, aber durch den Anbau von Obst und Gemüse und die kleine Rinderherde haben alle genug zu Essen. Um Trinkwasser braucht sich auch keiner Gedanken machen, denn die Bäche im Reservat rauschen kraftvoll und sind klar. Das Alpenreservat ist eine kleine unentdeckte Insel inmitten einer untergegangenen Zivilisation.
Heinz ist 15 Jahre alt und das einzige Überbleibsel aus der Zeit vor dem Untergang ist ein elektronischer Spielzeugfuchs – Der Fennek. Er weiß kaum etwas über das Deutschland, wie es früher einmal war. Heinz sind nur noch Erinnerungsbruchstücke geblieben und die Hoffnung, dass irgendjemand aus seiner Familie doch noch lebt. Aber jetzt geht es ihm gut. Zum Geburtstag hat er eine Rarität bekommen: Eine hellblaue Tafel Rittersportschokolade in der Geschmackrichtung Alpenmilch und Schreibhefte, in denen er die Chronik der Gruppe festhalten kann für die Nachwelt.
Der Chronist der Gemeinschaft
Die Notizhefte faszinieren Heinz sehr. Er freut sich wie wahnsinnig über das bisschen Papier, das für mich eigentlich selbstverständlich ist. Heinz fasst einen Plan, er möchte das bewahren, was er erlebt und er möchte die letzten Erinnerungen aus dem unzerstörten Deutschland für die Nachwelt aufschreiben. Er möchte Wörter retten, er sammelt sie und schreibt sie in unzusammenhängenden Listen auf. Alles, was in diesen Notizbüchern steht, kann nicht verloren gehen.
Aber eigentlich geht ziemlich viel Wissen verloren, denn die Gemeinschaft kann nur noch aus dem schöpfen, woran sie sich erinnern können. So etwas wie Internet oder Bücher gibt es auf der Alm nicht. Thomas von Steinaecker warf für mich eine interessante Frage auf: Was ist, wenn der Mensch sein Wissen nicht mehr haltbar machen kann? Jede Generation muss sich ihre Kenntnisse wieder selbst erarbeiten oder bekommt hoffentlich vieles mündlich von den Alten beigebracht. Nichtsdestotrotz geht durch die „mündliche Überlieferung“ viel verloren, was die Gesellschaft sich eigentlich schon angeeignet hatte.
Eines Menschen Würde
„Die Verteidigung des Paradieses“ wäre keine Dystopie, wenn Heinz die ganze Zeit auf dem letzten heilen Fleck Erde leben könnte, was noch existiert. Die Technik versagt und die Alm ist nun nicht mehr das Paradies, sondern gleicht sich der verstrahlten Ödnis um sie herum an. Die Gemeinschaft muss sich entscheiden – weiterhin auf der Alm versuchen zu leben und mit Sicherheit irgendwann sterben oder den Versuch unternehmen und einen Ort finden, der noch lebenswert ist. Bisher konnte die Gemeinschaft würdevoll leben. Keiner musste einen anderen Menschen töten, weil er sonst verhungert wäre, denn Essen gab es auf der Alm ausreichend.
Was aber passiert, wenn die Gemeinschaft auf Räuberbanden trifft oder sogar nur auf ganz gewöhnliche andere Menschen, die auch nur versuchen zu überleben? Kann die Menschenwürde bewahrt werden? „Die Verteidigung des Paradieses“ befasst sich in besonderer Weise mit dem Thema der Würde. Ich habe gern gelesen, wie die Gemeinschaft immer weiter sich von ihren Idealen entfernt oder besser gesagt entfernen muss, denn am Ende ist es doch immer die Entscheidung für das Überleben. Und ich bin froh, über die Menschlichkeit, die Thomas von Steinaecker seinen Figuren dann doch zugesteht. So etwas wie Liebe und Fürsorge ist auch während des Untergangs möglich.
„Die Verteidigung des Paradieses“ habe ich immer auch mit einem kleinen Schauer lesen müssen. Es ist sehr spannend sich das alles vorzustellen, wie es wäre, wenn die heutige Wohlstandgesellschaft nicht mehr wäre. Thomas von Steinaecker hat Deutschland als Handlungsort gewählt und das macht es umso leichter, sich in die Umgebung hinein zu versetzen, denn auch immer werden real existierende Orte genannt vom Autor. Das Buch habe ich regelrecht verschlungen, denn die leise Angst trieb mich an und ich wollte wissen, was mit Heinz und der Gemeinschaft passiert. „Die Verteidigung des Paradieses“ kann aber nicht nur auf das Genre Unterhaltungsliteratur beschränkt werden, denn dafür stellt Thomas von Steinaecker zu gut die Frage nach der Würde des Menschen.
Fazit
Das Buch „Die Verteidigung des Paradieses“ von Thomas von Steinaecker ist berechtigterweise auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2016 gelandet und ich bin traurig, dass es das Buch nicht auch auf die Shortlist geschafft hat.
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Tommi und die Schmöker
Sounds and Books
Kommentierfrage: Könntest du dir vorstellen, jemanden umzubringen?
Allerdings brachte mich der Debütroman „Das Unglück anderer Leute“ von Nele Pollatschek zum Nachdenken. Bei ihr ist die Familie keine Idylle auf der thüringischen Seite des Vogtlandes wie bei mir. Das Familienleben in „Das Unglück anderer Leute“ ist nicht umkreist von Mischwald, Kleinstadtfrieden und weidenden Kühen.
Nele Pollatschek – Eine noch unbekannte Autorin
Nele Pollatschek hat Talent. Das unterschreibe ich gern. Nicht umsonst hat sie es geschafft, dass ihr erster Roman bei einem größeren deutschen Verlag verlegt wurde, dies ist vergleichsweisen wenigen Autoren vergönnt. Das habe ich zumindest mittlerweile bei meinen Reisen durch den Literaturbetrieb gemerkt – neue Autoren haben es nicht leicht. Umso schöner, wenn solch ein Erstling zu einem der Spitzentitel des Galiani Berlin Verlages ausgewählt wird und der Verlag als Begleitschreiben zum Rezensionsexemplar eine Anekdote erzählt. Von einem der schönsten und seltensten Momente eines Verlagsmenschen ist da die Rede. Es kommt nicht oft vor, dass ein Verlagsmensch von einem Manuskript umgehauen wird, denn oft sind die Erwartungen nicht groß. Aber Nele Pollatschek hat mit ihren Sätzen solchen Eindruck gemacht, dass ihr Manuskript schnell im Verlag zirkulierte und alle begeisterte.
„Das Unglück anderer Leute“ ist ein Familienroman, der im Odenwald und in Oxford spielt. Beide Orte sind Nele Pollatschek aus ihrem Leben sehr gut bekannt. Aktuell promoviert Pollatschek in Oxford, genauso wie ihre Hauptfigur Thene. Das Thema von Nele Pollatscheks Forschungsarbeit ist auch sehr interessant – das Böse in der Europäischen Literatur mit Schwerpunkt auf viktorianischen Erzählungen.
„Das Unglück anderer Leute“: Die Mutter, die alte Hexe
Das Böse in „Das Unglück anderer Leute“ wird zunächst verkörpert von Thenes Mutter. Astrid ist eine unmögliche Person, bei der ich sicherlich auch an die Grenzen meiner Geduld stoßen würde. Die Mutter von Thene zieht immer leuchtend rote Kleidung an, ist sehr exzentrisch, nimmt keine Rücksicht auf andere Leute und ist sehr laut. Natürlich schreckt sie auch nicht vor emotionaler Erpressung zurück, darin hat sie quasi promoviert. Nachdem Astrid sich von Thenes Vater, Georg, getrennt hatte, ging sie sogar soweit, dass Georg keinen anderen Ausweg sah als einfach fünf Jahre aus dem Leben seiner Tochter zu verschwinden. Er wusste es nicht besser und konnte dieser bekloppten Frau nicht länger standhalten.
Ich hatte beim Lesen großes Mitleid mit Thene. Denn eigentlich will sie nur ihre Ruhe. Thene will mit ihrem Freund ein friedliches Leben leben, lesen, schreiben und vielleicht ein bisschen Kirschkuchen futtern. Mit Astrid und der verrückten Patchwork-Familie geht das nicht. Thene hat noch einen jüngeren Halbbruder, Ellijah, der von allen nur Elli genannt wird. Er ist der Sohn von Ralf, der seit einigen Jahren zum jüdisch-orthodoxem Glauben übergetreten ist und nun von allen Menachem genannt werden möchte, diesen Wunsch erfüllt Thene ihn nicht. Ralf ist übrigens gleichzeitig der Cousin von Astrid, aber nicht alles, was legal ist, bringt auch Glück. Zu Elli kommt noch eine weitere Halbschwester, Trixie sowie noch Sarah. Ich habe jetzt leider nicht mehr im Kopf, wer da die Väter waren, aber ist wohl auch egal. Astrid hatte sehr viele Männer, im Buch werden immer wieder Geschichten über die Grässlichkeit der Stiefväter ausgetauscht.
Meine drei liebsten Zitate aus „Das Unglück anderer Leute“
Was das Verhältnis zu meiner Mutter anging, war ich Marxist. Das heißt, ich wusste, dass die materiellen Verhältnisse die ideellen Verhältnisse schaffen. (aus „Das Unglück anderer Leute“ von Nele Pollatschek, Seite 26)
In meiner Familie nahm es mit der Wahrheit sowieso niemand so genau. Vor allem nicht, wenn sie einer guten Geschichte im Weg stand. Anders gesagt, jeder auf seine Weise waren wir alle Lügner. (aus „Das Unglück anderer Leute“ von Nele Pollatschek, Seite 56)
Am Ende führt auch ein Leben als Punk nur zu einer verfloskelten Facebookmeldung. Im Tod werden wir alle zu den gleichen Klischees. (aus „Das Unglück anderer Leute“ von Nele Pollatschek, Seite 175)
Das Ende einer Familie
Manchmal wusste ich beim Lesen nicht, was für Thene das größere Unglück war: Entweder dass Astrid wirklich ihre Mutter war oder dass Astrid Leben am Abend vor Thenes Masterverleihung in Oxford auf völlig sinnlose Weise ums Leben kam. Astrid konnte nämlich die Zeit nicht abwarten bis sie vom Flughafen mit dem Auto abgeholt wurde und kam ihrer Familie schon mal zu Fuß auf der Straße entgegen. Nachts, im Dunkeln. Ein LKW-Fahrer hat sie übersehen. Kann man da noch sagen „Selbst Schuld“ oder ist da Mitleid doch angebrachter? Ich konnte mich beim Lesen nicht entscheiden.
Thene analysiert die Situationen sehr klug. Ihr Blick ist scharf und dafür, dass es ihre eigene Familie ist, die sich dem Wahnsinn hingibt, erstaunlich distanziert. Ich habe die inneren Monologe von Thene mit großer Freude gelesen. Nele Pollatschek schreibt witzig und dadurch wirkt dieser familiäre Abgrund, der sich auftut nicht mehr ganz so erschreckend. Denn im weiteren Verlauf des Buchs geht es darum, wie die Familie jetzt mit Astrids plötzlichem Tod klarkommt. Was wird aus den ganzen Geschwistern? Was ist mit Georg?
Ich würde die Hauptfigur Thene gern in der Realität kennenlernen, wenn ich mir etwas wünschen dürfte. Und das nicht nur, weil sie in meinem Alter ist. Thene ist sympatisch und ich würde gern von ihr wissen, was gewesen wäre, wenn sie vielleicht nicht so eine kaputte Familie hätte. Das Einzige, was ich Nele Pollatschek an „Das Unglück anderer Leute“ übelnehme, ist das Ende. Das war mir zu überdreht, aber passt wohl sehr gut zu dieser schrecklich netten Familie.
Fazit
Nele Pollatschek hat mit „Das Unglück anderer Leute“ ein gelungenes Debüt verfasst. Ich hatte beim Lesen dieser Familiengeschichte großen Spaß.
Vielen Dank an den Galiani Berlin Verlag für das Rezensionsexemplar.
Kommentierfrage: Wie kommst du mit deiner Familie klar?
1. Die Geschichte.
Jeanette hat erst kürzlich promoviert in Astronomie und versucht im wissenschaftlichen Betrieb Fuß zu fassen. Mit einer befreundeten Wissenschaftlerin macht sie eine spektakuläre Entdeckung, die so ziemlich alles infrage stellt, woran die Astrophysik in den letzten 70 Jahren geglaubt hatte. Aber was soll Jeanette tun? Veröffentlichen und möglicherweise eine gewaltige Lawine lostreten, die entweder ihre Karriere vernichtet oder aber beflügelt? Zusätzlich zu diesem Problem meldet sich ab und zu noch die Jeanettes Vergangenheit. Ihre Schwester Kate ist ertrunken und keiner weiß warum.
2.
„Und vielleicht zum ersten Mal wird ihr klar, daß die meisten Menschen diese Struktur gar nicht in ihrem Leben haben. Dieses kosmische Gerüst, an dem sie sich festhalten können. Vielleicht brauchen sie deshalb eine Religion.“ – aus „Weiter als der Himmel“ von Pippa Goldtschmidt, S. 163
3. Die Autorin.
Pippa Goldschmidt ist, genauso wie die Hauptfigur, promovierte Astrophysikern. Sie arbeitete lange Zeit am Imperial College und auch in der Weltraumbehörde. Außerdem ist Pippa Goldschmidt Absolventin des Masters-Kurs an der University of Glasgow in Creative Writing. Als Schriftstellerin wurde sie bereits mit Preisen ausgezeichnet.
4. Die Bedeutung dahinter.
Frauen in der Wissenschaft haben es wahrlich nicht einfach. Diese Botschaft bringt Pippa Goldschmidt sehr präzise dem Leser näher. Besonders in männerdominierten Wissenschaften, wie beispielsweise der Astronomie, sind Frauen eher Exoten und werden belächelt. Um so schwerer machen es noch die allgemeinen Zustände im Hochschulbetrieb: Bevor es irgendwo eine Festanstellung gibt, müssen Tausende befristete Jobs absolviert werden. Dabei muss der junge Wissenschaftler publizieren, was das Zeug hält. Nur so wird man schließlich vielleicht einmal wahrgenommen. Sinnlose Kongresse müssen besucht werden und dort wird dann bestenfalls ein nicht ganz unrelevanter Beitrag präsentiert. Wirkliche Querdenker und Forscher, die die etablierte Meinung infrage stellen, werden nicht gesucht. Entscheidend ist minimale Abweichung, sodass es gerade noch interessant bleibt. Amen.
5. Jeanette.
Pippa Goldschmidt hat mit Jeanette in „Weiter als der Himmel“ eine wundervolle Hauptfigur gezeichnet. Sehr fein beschreibt die Autorin, ohne zu langweilen. Sie ist sehr genau an der Realität. Jeanette ist manchmal etwas zögerlich, weil sie, wie jeder andere Mensch, die wirklich Konsequenzen ihrer Entscheidungen nicht ganz absehen kann. Soll sie ihre Entdeckung veröffentlichen oder nicht? Aber wenn sie sich dann entschieden hat, dann bleibt sie auch dran und weicht nicht ab. Sie möchte eine gute Wissenschaftlerin sein und das heißt Objektivität. Sie verteidigt sich und ihre Arbeit. Nebenbei muss sie noch gegen ihre Vergangenheit ankämpfen oder zumindest herausfinden, wo wirklich ihre Wurzeln liegen. Dr Tod ihrer Schwester hat die gesamte Familie in ein schwarzes Loch gezogen. Jeanette ist im gesamten Buch auf der Suche nach der Wahrheit und auf der Suche nach sich selbst.
6.
„Weil der Tod außerhalb der Zeit ist, und man braucht die Zeit, um seine Erinnerungen zu ordnen. Man braucht Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Einen Anfang, eine Mitte, ein Ende. Aber Tod ist dafür zu konstant. Zu unveränderlich.“ – aus „Weiter als der Himmel“ von Pippa Goldtschmidt, S. 277
7. Der Verlag.
„Weiter als der Himmel“ wurde im Weidle Verlag veröffentlicht und von Zoe Beck übersetzt. Das macht dieses Buch zu einem Trüffel. In den großen Buchhandelsketten wird man das Buch wahrscheinlich nicht finden, was in meinen Augen sehr schade ist. Die Qualität des Buchs ist so viel besser als das von irgendwelchen Mainstreamkopien. In „Weiter als der Himmel“ steckt wahnsinnig viel Inhalt. Dicht ist eine sehr treffende Beschreibung.
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