Sind wir eigentlich verrückt? – 3 Bücher über und für eine nervöse Gesellschaft

Etwas stimmt nicht.
Irgendwas stimmt nicht mit dieser Welt. Irgendwas stimmt nicht mit mir oder mit meinen Freunden. Ich habe ein Smartphone und das kann sehr viel: Theoretisch bin ich rund um die Uhr erreichbar, ich weiß immer, welches Wetter wir in Timbuktu haben und auch sonst kann ich mich über alles auf der Welt innerhalb von Minuten informieren. Der Zugriff auf verschiedene Nachrichtenquellen ist für mich kein Problem. Ich habe Programme, die meine Aufgaben und Termine organisieren. Und wenn ich wollen würde, könnte ich mich sofort ins Auto setzen und nach Hamburg oder Prag oder, oder, oder fahren. Es ist auch kein großes Problem, eine neue Sprache oder so etwas wie Programmieren zu lernen. Wenn ich will, ist das kein Problem.
Aber werde ich durch alle diese Möglichkeiten produktiverer oder ein besserer Mensch? Ich habe nicht das Gefühl. Viel mehr habe ich das Gefühl, dass irgendwas schiefläuft. Erst kürzlich sind drei Bücher erschienen, die mein Gefühl bestätigen, denn diese Autorinnen und Autoren stellen die Frage, ob wir verrückt geworden sind – ob wir unseren Fokus verloren haben. Diese Bücher möchte ich euch gern vorstellen:
#1 Mach mal halblang von Matt Haig
1999 wurde bei Matt Haig erstmalig eine Depression diagnostiziert. Seine Erfahrungen mit dieser Krankheit hat er bereits sehr ausführlich im Buch „Ziemlich gute Gründe, am Leben zu bleiben“ geschildert. Auch sein neues Buch „Mach mal halblang“ hat ein wenig mit seinen Erfahrungen, die er im Kampf gegen Depression und Angststörung gemacht hat, zu tun. Denn Matt Haig ist wahrscheinlich feinfühliger als die meisten Menschen.
In kurzen Kapiteln widmet sich Matt Haig unterschiedlichsten Phänomenen der modernen Welt, wobei der Schwerpunkt eindeutig auf den Auswirkungen von Social Media und der ständigen Erreichbarkeit durch Smartphones liegt. Er schreibt darüber, was er als wirklich wichtig für sich im Leben erkannt hat. Und er schreibt über die Risiken psychischer Gesundheit, wie zum Beispiel das Immer-Mehr-Wollen oder der hohe Stellenwert der Arbeit im Leben. Das gesamte Buch ist aus einer sehr persönlichen Sicht geschrieben, was manche Kapitel auch sehr oberflächlich macht. Nichtsdestotrotz habe ich beim Lesen oft mit dem Kopf genickt und musste den Beobachtungen von Matt Haig zustimmen.
Wenn wir alles wollen, dann vielleicht deshalb, weil wir gefährlich nah daran sind, nichts mehr zu wollen.
Sylvia Plath
#2 Die psychotische Gesellschaft: Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden von Ariadne von Schirach
Die Oberflächlichkeit, die ich Matt Haigs Buch vorwerfe, trifft ganz bestimmt nicht auf „Die psychotische Gesellschaft“ von Ariadne von Schirach zu. Die Autorin ist sehr belesen und sehr klug, das merkt man auf jeder Seite ihrer Ausführungen. In ihrem Buch unterstellt sie nämlich, dass unsere komplette Gesellschaft psychotisch geworden ist. Das bedeutet, die Gesellschaft weiß nicht mehr, wer sie ist und was sie tun soll. Ariadne von Schirach geht auf die Bedeutung und das Konstrukt von Kultur ein und auf noch unendlich viel mehr. Sie analysiert, warum die Gesellschaft psychotisch ist. Warum es dazu kam und skizziert Wege, wie die Gesellschaft wieder gesund werden kann. Das klingt ganz schön kompliziert und das ist es auch. „Die psychotische Gesellschaft“ ist kein einfaches Buch, was man so nebenbei liest. Als Leser muss man sich darauf einlassen können und auch mal über längere Abschnitte hochkonzentriert bleiben, aber man wird auch mit interessanten Erkenntnissen belohnt.
#3 Die Bullet-Journal-Methode: Die Vergangenheit verstehen, die Gegenwart ordnen, die Zukunft gestalten von Ryder Carroll
Okay zugegeben. Dieses Buch habe ich in diesen Artikel ein wenig hereingemogelt. „Die Bullet-Journal-Methode“ analysiert nur bedingt den verrückten Zustand der Gesellschaft, aber ich halte es für eine gute Methode, um im Angesicht der vielen Möglichkeiten und der unaufhörlich auf einen einprasselnden Nachrichten, nicht selbst psychotisch zu werden. Ryder Carroll leidet seiner Kindheit unter ADHS und hat ein System entwickelt, welches ihn hilft, sich auf die wichtigen Dinge zu fokussieren und seinen wilden Geist zähmt.
Das einzige was für diese Methode nötig ist, ist ein Notizbuch und ein Stift. Ganz analog ohne Smartphone und gerade das macht auch einen Teil der Macht der Bullet-Journal-Methode aus. Denn ohne Ablenkungen nimmt man sich Zeit, um nachzudenken. Ryder Carroll stellt in „Die Bullet-Journal-Methode“ seine Methode vor, gibt viele Tipps und Denkanstöße für das eigene Leben. Ich denke keinesfalls, dass ein Bullet-Journal nun das Allheilmittel für eine psychotische Gesellschaft ist, aber ich denke, dem einzelnen Menschen kann es helfen.
Danke für diesen Beitrag. Das Thema beschäftigt mich auch momentan (ich habe erst heute eine Rezension online gestellt zum Thema „Abschalten – Urlaub vom Smartphone“. Ich finde die Entwicklung auch manchmal etwas beängstigend, für die Gesellschaft und das soziale Miteinander, wenn uns diese Geräte überall- wirklich überall hin begleiten. Und alles und jeder Moment auf Video (oder Foto) am Smartphone gebannt werden muss statt einfach nur das Hier und Jetzt zu geniessen. Und durch die Überflutung an Nachrichten auf Social Media und ein exzessives Konsumverhalten bei andauernder Werbung, die einem auf beinah jeder Seite begegnet, ist es manchmal wirklich so,… Weiterlesen »
Wir sind eben alle Opfer der Aufmerksamkeits-Ökonomie. :/
[…] Janine von Frau Hemingway hatte die klasse Idee, über die nervöse Gesellschaft zu schreiben und hat dafür nervöse Gesellschaft vorgestellt. […]
[…] ♡ Janine von Frau Hemingway hat da einen extrem spannenden Beitrag geschrieben. Die drei Bücher habe ich mir schon auf die Wunschliste gelegt. Sind wir eigentlich verrückt? – 3 Bücher über und für eine nervöse Gesellschaft […]
Gute Rezensionen. Ich unterschreibe voll und ganz der „psychotischen Gesellschaft“, haha. Ariadne von Schirach hat zwar gute Tips zur Überwindung… aber am Ende ist es doch ein volles HINDURCH! Keiner kommt am Stress und den Depressionen vorbei, wie bei Matt Haig verdeutlicht. Es bleibt natürlich die Frage, ob die Schreiberlinge und Schriftsteller dieser Welt mehr und sensibler leiden als der Rest. Man widmet sich der Schriftstellerei ja nicht ohne eine gewisse Neurose am Leben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Autoren, die voll auf der obergeilen Wolke sitzen und sich super hip vorkommen, wie Sibylle Berg und ihrem… Weiterlesen »
Vielen Dank! Wir können nur lernen, mit der Komplexität umzugehen und es zu ertragen. Kontrolle bleibt wohl eine Illusion.
Etwas provokant vielleicht, das Smartphone ist ein Gerät. Es lässt sich ausstellen und es kann Zuhause liegen bleiben. Meist geht die eigene Welt nicht unter, wenn das passiert.
Man kann Nachrichten zu bestimmten Zeiten angucken. Und ein Buch schmökern – auch ein eBook auf dem Smartphone ohne WLAN, zumindest gilt das für hochgeladene Leseexemplare
Sagt eine, die das ab und zu schafft 🙂
🙂 Das muss man sich nur immer wieder ins Gedächtnis rufen. Aber die wenigstens Menschen schaffen das.