Nichts, was uns passiert – Die Autorin Bettina Wilpert im Interview

Es war für mich spannend und bewegend, Das Buch „nichts, was uns passiert“ von Bettina Wilpert zu lesen. Umso mehr habe ich mich dann gefreut, dass dieses Buch mit dem Blogger-Debütpreis ausgezeichnet wurde. Und jetzt freue ich mich, Bettina Wilpert zu interviewen.
Über das Schreiben am Buch
Kannst du zum Beginn etwas zu deinem Buch erzählen? Worum es geht?
In meinem Roman „nichts, was uns passiert“ geht es um Anna und Jonas. Die beiden sind Ende 20, leben in Leipzig. Sie lernen sich da kennen, finden sich ganz gut und haben dann einmal einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Dabei belassen sie es und beenden zunächst ihre Affäre. Aber bei einer Party von einem gemeinsamen Freund treffen sie sich wieder und es kommt zum Hauptkonflikt des Romans: Anna sagt, sie wurde von Jonas vergewaltigt und Jonas streitet es ab. Im Buch geht es darum, wie das Umfeld auf die Vorwürfe reagiert – die Freunde, die Familie – und es geht auch ein bisschen um die juristische Auseinandersetzung.
Wie kam dir die Idee zu diesem Buch? Warum dieses Thema? Warum Vergewaltigung?
Das lässt sich nicht eindeutig mit einer Sache beantworten. Ich beschäftige mich schon seit einiger Zeit mit feministischer Theorie und mit sexualisierter Gewalt habe ich mich das erste Mal 2011 im Zuge der „Slutwalks“ auseinandergesetzt. In Kanada hatte damals ein Polizist gesagt, dass Frauen keine kurzen Röcke anziehen sollen, weil sie deswegen vergewaltigt werden. Daraufhin gab es ganz viele Demos, wo Frauen gesagt haben, dass sie sich anziehen können, wie sie wollen und dass dies kein Grund für eine Vergewaltigung ist.
Vor drei oder vier Jahren habe ich dann einen Artikel in der Zeitung „Die Zeit“ über den Fall von Emma Sulkowicz gelesen. Sie hat eine Kunstperformance gemacht, die „Carry That Weight“ heißt. Emma Sulkowicz wurde auch mutmaßlich vergewaltigt und hat dann, um darauf hinzuweisen, eine Matratze über den Campus getragen. Mit dieser Kunstperformance war sie sogar auf dem Cover der „Times“. Der Student, der sie vergewaltigt haben soll, war ein Deutscher und dieser Zeitungsartikel in der „Zeit“ hat ihn porträtiert. Ich fand diesen Artikel sehr schlecht, weil darin geschrieben wurde, dass er das gar nicht gemacht haben kann mit der Begründung, dass er in Kreuzberg aufgewachsen und seine Mutter Feministin ist. Über diesen Artikel habe ich mehrere Tage mit Freunden diskutiert und mich dabei furchtbar aufgeregt. Bis ich mich gewundert habe, dass darüber noch niemand ein Buch geschrieben hat. „nichts, was uns passiert“ ist nicht persönlich motiviert. Ich kannte damals glücklicherweise niemanden, dem das in meinem Umfeld passiert ist.
Wie lange hast du an dem Buch gearbeitet? Von der Idee bis zur Fertigstellung?
Konkret mit der Arbeit am Buch begonnen habe ich im Sommer 2016. Damals hatte ich angefangen mit den Recherchen, dabei habe ich ganz viel wahllos zu dem Thema gelesen. Eigentlich alles, was ich gefunden habe. Nach diesem halben Jahr Recherche habe ich ein Jahr lang geschrieben. Das war 2017. Dann hatte ich Glück und habe relativ schnell den Verbrecher Verlag gefunden, der mein Buch verlegt hat. Das Lektorat dauerte dann drei bis vier Monate. Insgesamt ging das Schreiben dieses Buchs relativ schnell mit etwa zwei Jahren.
Wie war der Schreibprozess für dich? War es anstrengend?
Grundsätzlich war „nichts, was uns passiert“ mein zweiter Roman, für den ersten Roman habe ich nur keinen Verlag gefunden. Studiert habe ich am „Deutschen Literaturinstitut“ in Leipzig und mein erster, unveröffentlichter Roman ist im Zuge der Romanwerkstatt am Literaturinstitut entstanden. Damals haben mir so viele Leute gesagt, wie ich dieses oder jenes beim Roman schreiben soll. Da hatte ich nicht richtig die Zeit herauszufinden, was ich eigentlich will.
„nichts, was uns passiert“ habe ich nach dem Studium geschrieben. Parallel hatte ich einen Job als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache, wo ich 30 Stunden pro Woche gearbeitet habe. Meistens habe ich abends gearbeitet und konnte vormittags immer Schreiben. Ich arbeite sehr strukturiert. Es gab einen Gesamtplan fürs Buch und jedes Kapitel habe ich noch einmal unterstrukturiert. Damit habe ich dann darauf losgeschrieben. Beim Schreiben passierten nochmal Sachen, die ich nicht erwartet hatte und mir kamen andere Ideen. Aber ich habe das Buch relativ chronologisch, das heißt von vorn bis hinten, geschrieben.
Manchmal musste ich mich zum Schreiben auch zwingen und an anderen Tagen lief es sehr gut; ich bekam einen Schreibflow. An Tagen, wo ich keine Lust zum Schreiben hatte, habe ich mich trotzdem gezwungen drei Stunden zu schreiben. Vielleicht kam dabei nichts heraus, aber es ist gut, wenn man am Buch dranbleibt.
Überarbeitest du sehr viel?
Ja, genau. Ich habe eine erste Version, die ich herunterschreibe und dann überarbeite ich ganz viel. Also ich drucke mir den Entwurf dann immer aus, streiche Passagen an, arbeite diese wieder ein, drucke den Text noch einmal aus und überarbeite wieder. Das mache ich, bis ich fast keine Fehler mehr finde. Bestimmt sind das fünf bis sechs Durchgänge. Beim allerletzten Durchgang lese ich dann alles laut vor, weil ich beim Schreiben viel mit dem Rhythmus arbeite. Mir fallen Wortwiederholungen auf diese Weise besser auf. Natürlich ist das irgendwann langweilig, aber es muss gemacht werden.
Wie wichtig ist die Lektorin oder der Lektor für dich?
Superwichtig. Meine Lektorin ist Kristine Listau vom „Verbrecher Verlag“ und die Zusammenarbeit war supergut. In der Lektorats-Phase haben wir jeden Tag drei Mal telefoniert. Das Lektorat hat mir sehr geholfen. Zum Beispiel hatte die Ich-Erzählerin im Buch am Anfang noch komplett einen Namen und ein Leben. Sie kam also selbst vor im Roman. Irgendwie funktionierte das nicht, aber ich wusste auch nicht, was ich machen soll. Dann meinte meine Lektorin, dass wir die Ich-Erzählerin auch einfach streichen können und es funktioniert, wenn sie nicht in der Geschichte vorkommt. Diese Entscheidung hätte ich alleine nicht gefällt, weil ich mich nicht getraut hätte. Es ist schon sehr gut, wenn man noch jemanden hat, der von außen auf die Geschichte guckt. Ein weiteres Beispiel ist der Schluss. Ursprünglich ist nach dem Schluss noch ein bisschen was passiert und das habe ich dann, auch auf Rat meiner Lektorin hin, gestrichen. Auch das war gut für die Geschichte.
Wie hast du den „Verbrecher Verlag“ gefunden?
Das war eine coole Fügung. Ich habe in dem „Metamorphosen Magazin“, welches im „Verbrecher Verlag“ herauskommt, eine Kurzgeschichte veröffentlicht. Dazu gab es in Berlin eine Release-Lesung und beide Verleger vom „Verbrecher Verlag“ waren da. Sie hatten vorher schon die Geschichte gelesen und mich dann nochmal lesen hören. Nach der Lesung ist dann das passiert, was sich jeder wünscht. Jörg Sundermeier kam auf mich zu und meinte, er würde gern mehr von mir lesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich zufällig meinen Roman gerade fertig geschrieben. Diesen habe ich dann dem „Verbrecher Verlag“ geschickt und sie wollten es verlegen.

Hattest du den Titel „nichts, was uns passiert“ schon oder wie kam es dazu?
Es gab einen anderen Arbeitstitel, den ich nicht verrate. Der hatte wirklich nicht so gut gepasst. Ich habe dann eine Liste aus zehn Titeln gemacht, die immer Zitate aus dem Roman waren. Aus dieser Liste ist es dann „nichts, was uns passiert“ geworden, obwohl es im Roman eigentlich „nichts, was uns geschieht“ heißt.
Täter vs. Opfer?
Was mir so an deinem Buch gefallen hat, ist dass du eben relativ objektiv beide Seiten beschreibst. Sowohl Täter als auch Betroffene. Was bedeutet denn für dich Wahrheit?
Das ist eine schwierige Frage. Eine der Motivationen für „nichts, was uns passiert“ rührt aus einer persönlichen Erfahrung von mir. Ich habe länger in einem Hausprojekt in Leipzig gewohnt, wo es später auch zu gewalttätigeren Vorfällen kam. In dieser Zeit habe ich viel über Menschen gelernt. Ein und denselben Vorfall haben verschiedene Menschen vollkommen unterschiedlich wahrgenommen. Ich verstehe nicht, wie das so sein kann, aber das geht einfach. Das passiert auch im Kleinen bei alltäglichen Missverständnissen, wo jeder nur das hört, was er hören will. Für mich ist das eine faszinierende psychologische Sache.
Im Buch ist das auch so und ich habe versucht, mich mit dieser Täterperspektive auseinanderzusetzen. Ich wollte verstehen, was in so einem Täter vorgeht. Bei Jonas habe ich da auch keine abschließende Antwort, aber ich habe drei Theorien:
- Jonas weiß ganz genau, was er gemacht hat und bestreitet es komplett. Bei ihm ist das allerdings nicht wahrscheinlich.
- Es kann auch sein, dass er es wirklich nicht mitbekommen hat, weil er zu betrunken war und zu wenig Empathie hatte.
- Was ich aber sehr wahrscheinlich finde, ist, dass er es schon mitbekommen hat, es aber aus Selbstschutz komplett verdrängt. Er denkt wirklich, er hat es nicht gemacht.
Im dritten Fall spricht Jonas ebenso die Wahrheit und Anna spricht natürlich auch die Wahrheit, darum gibt es vielleicht schon verschiedene Wahrheiten.
Hast du dazu Leserfeedback bekommen? Gab es viele Menschen, die das sehr spannend fanden oder gab es mehr Menschen, die es nicht gut fanden, dass es nicht 100% klar war, was passiert ist?
Es gibt Beides. Was mir aufgefallen ist, es sagen viele Leute immer, es bleibt ja offen. Das wundert mich dann ein bisschen und ich frage: „Ja, wirklich? Bleibt das Ende offen?“ Ich finde nicht, dass das Ende offenbleibt, aber ich habe die Erfahrung gemacht, dass jede Person das Buch mit ihrem eigenen Erfahrungsschatz liest. Jeder hat eine andere Definition von Grenzen und Vergewaltigung. Und wenn diese Person eine andere Definition hat als ich, dann sagt die, es ist offen. Frauen sagen zum Beispiel oft, es ist eindeutig klar, dass es eine Vergewaltigung war. Es gibt beides.
Hat dein Buch für dich bisher etwas verändert?
Ja, für mich hat sich einiges verändert. Das Buch war schon ein Erfolg und das hätte ich so nicht gedacht. Das ist natürlich toll. Meine finanzielle Situation hat sich verändert und ich kann jetzt vom Schreiben leben, was mir für das nächste Buch eine gewisse Freiheit gibt. Allerdings überfordert es mich manchmal auch, mit diesem Erfolg klarzukommen. Klar, ich bin jetzt nicht superberühmt, aber ab und zu lerne ich Leute kennen, wo ich dann denke, die sehen mich als Autorin von diesem Buch, aber als Person interessieren die sich nicht für mich. An sich hat sich mein Leben aber nicht groß verändert: Ich habe noch die gleichen Freunde und wohne noch genau da, wo ich vorher auch gewohnt habe. Aber zum Beispiel die Lesereisen zu machen, ist für mich eine ganz andere Art von Arbeit als zu unterrichten oder in einem Büro zu arbeiten.
Wie waren die Lesereisen für dich?
Ich mache das sehr gern. Man trifft super interessante Leute. Natürlich wiederholen sich auch Fragen, aber es gibt trotzdem interessante Diskussionen mit dem Publikum. Es gibt häufig Leute, die mir dann von den Erfahrungen erzählen, die sie gemacht haben. Das Buch wird dann der Aufhänger, um darüber zu sprechen. Das finde ich gut, aber es ist auch viel, was ich verarbeiten muss.
Bettina Wilpert über Bücher
Als Buchbloggerin habe ich noch ein paar Fragen zu Büchern bzw. Literatur im Allgemeinen. Was liest du denn gerade?
Gerade habe ich „Vor dem Fest“ von Saša Stanišić zu Ende gelesen. Also ich war bei einer Lesung in Hamburg, wo er aus seinem neuen Buch „Herkunft“ gelesen hat. Und wo ich mir gedacht habe, jetzt muss ich endlich etwas von ihm lesen. Aber nun muss ich mir mal überlegen, welches Buch ich diese Woche anfange.
Eine letzte Frage: Gibt es Bücher, die dich sehr geprägt haben in deinem Leben?
Ich habe kürzlich nochmal über die Jugendbücher, die mich geprägt haben, nachgedacht, weil ich ein Stipendium für Jugendliteratur bekommen habe. Zum Beispiel der schwedische Jugendbuchautor Peter Pohl schreibt ganz traurige Bücher mit toller Sprache, die ich heute auch noch lesen würde. In einem seiner Bücher stirbt beispielsweise ein Zwilling und das hat mich mit elf oder zwölf Jahren sehr bewegt. Und dann würde ich noch sagen, Christa Wolf. „Medea“ ist ein sehr wichtiges Buch für mich. Letztes Jahr habe ich „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ von David Grossman gelesen. Das hat mich ganz lang beschäftigt, also ich habe sehr lang über die Figuren nachgedacht und auch jetzt denke ich manchmal noch über die Figuren nach, weil sie für mich wie reale Menschen sind.
Was beschäftigt dich bei diesem Buch so?
Einmal ist das die wahnsinnig tolle Sprache und dann ist die Geschichte auch einfach krass. Es ist eine Dreiecksliebesgeschichte und dann wird der eine Sohn in den Libanon-Krieg eingezogen. Die Mutter hat immer Angst, dass er stirbt. Diese Intensität ist das ganze Buch über sehr krass. Die Figuren in der Dreiecksbeziehung sind sehr plastisch und haben teilweise heftige Schicksale. Dadurch, dass man das ganze Leben von denen erfährt, sind das irgendwie echte Menschen. Ich habe auch fast ein Jahr gebraucht, um das Buch zu lesen. Nebenbei habe ich natürlich noch andere Sachen gelesen. Ich kann das Buch nur empfehlen.
Vielen Dank für das spannende Interview!