Hitze, Heidegger, Herzschmerz: Ruf mich bei deinem Namen von André Aciman

Ein Buch wie ein riesiges Wurzelgebilde. Verästelt und verzweigt, schöpft es tief aus der Quelle der Hochkultur. Das macht es am Anfang vielleicht nicht ganz leicht, aber das Spuren verfolgen lohnt sich. Dieser Text soll einen kleinen Anreiz dazu geben, sich auf die Suche zu machen.
Italien irgendwann in den 80ern. Es ist heiß, man lebt das dolce vita und wartet auf das Ende des Sommers. Elio, ein 17jähriger Teenager muss, wie jedes Jahr, sein Zimmer für einen älteren Assistenten seines Vaters räumen. Dieser lädt immer wieder verheißungsvolle Studenten zu sich in seine Villa ein, dass sie dort in sechs Wochen ihre Abschlussarbeit vollenden können. So entspinnt sich eine Geschichte aus Anziehung und Abstoßung, Geheimnissen und Anspielungen. Denn Elio verliebt sich in den 24jährigen Oliver, den diesjährigen glücklichen Bewerber. Durch ihn wird er hineingerissen in einen Strudel der Gefühle. Denn nebenbei bandelt Elio noch mit seiner Freundin Marzia an und ist eifersüchtig auf Chiara, mit der Oliver Küsse austauscht.
Soweit die Grundstory. Das Ganze ist aber verwoben mit unglaublich vielen und schönen Anspielungen aus der kulturellen Tradition. Ein paar möchte ich hier aufschlüsseln, dass ihr beim Lesen vielleicht ein paar hintergründige Überraschungen erlebt und neue Facetten dieses Buches kennenlernt.
Auf der Suche nach dem verlorenen Sommer
André Aciman, der Autor dieses Buches, ist Proust-Experte. Dieser ist vor allem berühmt durch sein mehrbändiges Romanwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Der Hauptakteur dort beißt in ein Madeleine, das in Tee getunkt wurde und erinnert sich an seine Kindheit und Jugend. „Ruf mich bei deinem Namen“ wird ebenfalls in der Rückschau erzählt. Elio erinnert sich an den Sommer, den er nie vergessen sollte. Und hier versteckt sich schon Proust. Für diesen ist Sentimentalität, also das gefühlsbeladene Erinnern, die Unfähigkeit zu vergessen. Liebe wird als (ur-)sentimentales Gefühl beschrieben. Kein Wunder also, dass Elio sich so gut an diesen Sommer erinnert, bescherte ihm dieser doch die erste große Liebe. Und das Buch regt den Leser dazu an, sich selbst zurück zu erinnern. Seine eigenen Gefühle mit denen von Elio zu vergleichen. Selbst sentimental zu werden und vielleicht alte Fotos hervorzuholen, die an längst vergangene Sommer erinnern.
Um das Erinnern, das Festhalten und Denkmäler geht immer wieder in diesem Buch. Elio und Oliver fahren in die Stadt und halten dort auf dem Platz, mit Blick auf das Meer. Oliver fragt, ob Elio wisse, welcher berühmte Dichter hier in der Nähe ertrunken sei und dieser kann richtig antworten: „Shelley.“ Oliver fragt daraufhin, ob es irgendetwas gebe, was Elio nicht wisse. Es entspinnt sich nun ein Dialog voller Anspielungen, die aber doch nicht zu viel sagen sollen, darüber, dass Elio nichts wisse, über die Dinge, die wichtig seien. Das Ganze endet in einer versteckten Liebeserklärung, die Oliver richtig deutet, aber nicht annimmt.
Erinnerung kann vielfältig sein. So schreibt Elio regelmäßig Tagebuch, es gibt eine Postkarte von einem von Olivers Vorgängern, die dieser sich mitnimmt und ebenfalls mit einer Widmung für Elio versieht und in seinem Büro aufhängt. Selbst ein Pfirsich, alles kann zum Symbol, zum Denkmal dieser Liebe werden. An allem kann sich die Sentimentalität entzünden und Assoziationen hervorrufen.
Liebe wie ein Heraklit.Fragment
Oliver schreibt gerade an seiner Promotion über Heraklit, den griechischen Dichter, der in der Antike den Beinamen „der Dunkle“ trug. In einer Passage des Buches liegen die beiden am Pool. Der ältere sinniert und der jüngere fragt, worüber er nachdenke. Oliver antwortet: „Über Heideggers Interpretation eines Fragments von Heraklit.“ Heraklits Lehre ist nur in Bruchstücken erhalten. Ebenso scheint auch die Liebe der beiden Hauptfiguren aus bruchstückhaften Sätzen zu bestehen, die auf die Interpretation des Anderen warten. Beide benutzen dabei reichlich Errungenschaften der Hochkultur. Passend dazu, wird in diesem Zitat Heidegger erwähnt. Für den deutschen Existenzphilosophen kann die Dichtung den Dingen zum Sein verhelfen. Alles, was unausprechlich ist, soll und kann aber in Dichtung gesagt werden. Ihre Gespräche erscheinen dabei wie ein Tanz, ein gegenseitiges Abklopfen, wie weit der Andere bereit ist zu gehen. Elio ist sich unsicher, wie er Oliver seine Liebe gestehen soll. Er wartet auf ein Zeichen. Er weiß nicht, ob er reden soll. Er tastet sich vor, in dem er Oliver eine Passage einer Novelle aus dem Heptameron, einer Sammlung von franzöischen Novellen Margarete von Navarras.
Heideggers Sturm
Für Heidegger muss die Dichtung den Dingen zum Sein verhelfen. Das, was unaussprechlich ist, soll in der Sprache der Dichtung gesagt werden. Es zieht sich durch das Buch. In ihm kommt eine Geschichte über einen Ritter und eine Prinzessin vor. Dieser fragt sie: „Ist es besser zu reden, oder zu sterben?“ Der ganze Konflikt, den der Teenager auszustehen hat, gebündelt in einem alten Buch. Der Zauber der Literatur ist wirksam! Die Liebe kommt in der Dichtung zur Sprache. In einer anderen Szene schenkt Elio Oliver das Buch „Armance“ von Stendhal. Dieser hatte die Geschichte von einem anderen französischen Roman entliehen, dessen Titel „Olivier“ war. Auch hier kommt die Liebe wieder in der Literatur zur Sprache. Wieder ist es ein Zeichen, dass Oliver dazu bringen soll, dass er sich Elio annimmt. Durch solche Andeutungen wächst dann doch die Liebe zwischen den beiden. Heraklit sagte: „Alles fließt.“, woraus Heidegger „Alles Große steht im Sturm!“ machte. Diese Liebe ist groß, doch wird sie nicht von außen bedroht. Die Zeit steht still. Die Eltern wollen es nicht bemerken, oder tun dies wirklich nicht. Keiner stirbt, niemand wird krank. Das einzige, was dieser Liebe im Weg steht, sind sie selbst und die Stürme in ihrem Inneren.
Platons Liebe und die Kugelmenschen
Und dann, als der Moment der absoluten Erfüllung gekommen scheint, nennen die beiden sich jeweils beim Namen des Anderen. Nicht nur zufällig geht der Name Elio in Oliver auf. Auch hier liegt wieder ein klassisches Zitat zu Grunde. Hierbei geht es um den Mythos der Kugelmenschen von dem der griechische Philosoph Platon in seinem „Gastmahl“ beschreibt. Die Menschen waren früher kugelförmig und hatten vier Arme und vier Beine. Doch dadurch wurden sie den Göttern zu mächtig, denn sie wollten den Olymp stürmen. Also trennte Zeus mit seinen Blitzen die Gestalten. Dabei entstanden aus den drei bisherigen Geschlechtern, Frau-Frau, Mann-Mann, Mann-Frau, die uns heute bekannten. Plato schreibt: „Wenn aber einmal einer seine wahre eigene Hälfte antrifft, […], dann werden sie wunderbar entzückt zu freundschaftlicher Einigung und Liebe und wollen sozusagen auch nicht die kleinste Zeit voneinander lassen; und ihr ganzes Leben lang miteinander verbunden bleiben (Plato, Symposion, 192 c-e).“ Es verlangt sie danach, dass „durch Nahesein und Verschmelzung mit dem Geliebten aus zweien einer werde (Plato, Symposion, 192 c-e).“
Doch auch wenn die Zeit still zu stehen scheint, muss dieser Sommer einmal zu Ende gehen. Oliver muss wieder zurück nach Amerika. Nach der Abreise wird Elio von seinem Vater beiseite genommen, der mit ihm eines der berührendsten Vater-Sohn-Gespräche der Literatur führt. Und auch hier muss die Kultur wieder das sagen, was sonst nur zwischen den Zeilen gesagt wird. Der Vater zitiert den französischen Philosophen Michel de Montaigne: „Ich liebte ihn, weil er er war und ich ich war.“
„Ich kann mich an alles erinnern!“
„Ruf mich bei deinem Namen“ steckt voller Anspielungen. Zwar kann man das Buch auch einfach runter lesen, doch im Suchen der ganzen Zitate kommt noch viel mehr Freude auf. So ist es nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern gleichzeitig eine Überlegung zum Gedächtnis und ein Symbol für die Macht der Kunst. Und damit gleichzeitig eine Ermunterung zum Weiterlesen!
Wem das Buch zu schnell zu Ende gegangen ist und der das „dolce far niente“-Gefühl auch mit anderen Sinnen wahrnehmen will, dem sei der Film „Call me by your name“ von Luca Guadagnino empfohlen. Er nimmt den Stoff des Buches und formt daraus einen wunderschönen Film, der mit eigenen Anspielungen und „Denkmälern“ den Betrachter in seinen Bann zieht. Auch hier gibt es viel zu entdecken und man kann noch etwas länger mit den beiden Liebenden verweilen. Und vielleicht wird es einem dann gehen, wie Oliver, der ziemlich am Ende des Films und Buchs zugibt: „Ich kann mich an alles erinnern!“
Über den Autor:
Kristian steht auf Hochkultur und findet, man sollte sie immer mal in den Alltag einbeziehen. Zurzeit promoviert er in Marburg, einer Stadt voller Bücher.
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