Gastbeitrag: Eine neue Geschichte der Welt – nicht nur für Jugendliche

Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Diese Fragen stellt sich jeder Mensch im Laufe seines Lebens einmal. Früher gaben traditionell die Religionen Antworten darauf. Aber auch die Beschäftigung mit Geschichte wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wichtiger für die Sinnfrage. Seine Gegenwart deuten, das kann man durch eine Betrachtung der Geschichte – seiner Familie, seines Volkes oder der Welt. Schon wenn wir das erste Mal unsere Augen aufschlagen, deuten wir unsere Umgebung. Wir finden schon immer eine Welt vor und müssen uns zu ihr verhalten. Wir brauchen einen Sinn.
Einen neuen Entwurf einer Weltgeschichte – nicht nur für ein jüngeres Publikum – hat nun Ewald Frie vorgelegt. Seines Zeichens Professor für Neure Geschichte an der Universität Tübingen.
Was haben James Cook und Dionysius Exiguus gemeinsam?
Frie beginnt mit einer Bestimmung der Grundkategorien unseres Lebens: Raum und Zeit. Wir sind bestimmt durch unsere Umgebung und unsere Zeit. Doch woher wissen wir darum? Klar, wir sehen, wie die Sonne auf und unter geht und unsere nähere Umgebung können wir an Spaziergängen am Sonntagnachmittag erkunden. Aber was ist mit den größeren Zusammenhängen?
Frie beschreibt nun, wie durch James Cook die großen Entdeckungen langsam an ihr Ende kamen, da die weißen Flecken auf der Erde immer weniger wurden. Und die Zeit? Im 6. Jahrhundert setzte sich der Mönch Dionysius Exiguus mit dem Ostertermin auseinander. Es gab schwankende Berechnungen. Er wollte dafür eine Lösung finden – und entwickelte nebenbei die westliche Zeitrechnung. Er berechnete das vermeintliche Datum der Erschaffung der Welt und teilte die Welt in vor und nach Christus ein. Zeit ist immer auch mit Macht verbunden. Als die Französische Revolution ihren Höhepunkt erreichte, wurde der Kalender auf ein anderes System umgestellt und die Tage wurden umbenannt. Auch die Revolutionäre der Oktoberrevolution beendeten den julianischen Kalender und führten den gregorianischen ein, den wir auch jetzt noch verwenden. Der julianische hinkt 13 Tage unserem hinterher.
Frie zeigt damit auch, dass die Geschichte unserer Welt kein Staffellauf ist. Es gibt keinen ungebrochenen Fortschritt. Die große Erzählung einer zum Ziel laufenden Geschichte kann nicht mehr gehalten werden. Stattdessen ist sein Projekt nun, die Geschichte der Welt an, auch außereuropäischen, Beispielen und Zentren zu schreiben.
Spiel mit den Perspektiven
Wo fängt man also an? Was ist wichtig und was nicht? Diese Frage stellt sich Frie in einem ausgezeichneten Nachwort selbst und kommt zu dem Schluss, dass man sich „von den Klassikern mit ihrem zielstrebigen Durchgang durch die ‚Hochkulturen‘ vom Alten Orient bis nach Europa, von der Vogelschau der ‚Big History‘ und von den Schneisen der Modernisierungsgeschichte“ (S. 457) wohl verabschieden kann.
Frie nimmt den Leser mit, auf einer Reise durch Zeit und Raum. Immer wieder werden Zentren von Entwicklungen angeschaut, oft auch solche, die im traditionellen Geschichtsunterricht fehlen (Ich habe zumindest dort nichts von den Städten Chang’an, Shidebaj und Kilwa gehört.). Ich finde diesen Perspektivwechsel spannend. Die Französische Revolution von der Karibik betrachtet und nicht von Paris aus, die Umbrüche des Commonwealth nicht aus britischer Perspektive, sondern der der ehemaligen Kolonien, alles Beispiele, die den Leser ins Nachdenken über seine eigenen Blickwinkel bringen. Zudem zeigt es, dass auch schon früher die verschiedensten Winkel der Erde über Handelsrouten miteinander verbunden waren. Nicht erst seit heute wird uns dieses Geflecht aus verschiedenen Strängen bewusst. Man reiste auf den Routen und erkundete andere Länder, aber man nutzte diese Wege auch für Krieg und Ausbeutung. Dabei wurden Ideen transportiert oder andere abgeschnitten.
Alles was entsteht…
Beim Durchgang durch die Städte und Länder zeigt Frie immer wieder auch das Ende der jeweiligen Kultur auf. Doch bleibt er dabei nicht stehen, sondern bindet dies auch wieder in die weitere Geschichte ein. Bloß weil Babylon untergegangen ist, heißt das nicht, dass es nicht noch eine Wirkmacht hätte. Auch wenn die Sklaverei abgeschafft wurde, sind die Folgen bis heute zu spüren.
Diese ausgewählten Beispiele zeigen uns, was alles passieren konnte und kann. Revolutionen können in ihr Gegenteil umschlagen, blühende Städte an Bedeutung verlieren, aber auch aus kleinen Anfängen kann etwas Großes entstehen, Ideen können sich nach einer Weile entfalten. Alles ist möglich. Die Geschichte hat kein festes Ziel. Sie ist für jeden Menschen ein Laboratorium für verschiedene Lebensweisen, sie ist ein Teppich, in das der einzelne seinen Lebensfaden einfügen kann.
Am Ende: Die Welt
Die Welt als Ganzes bieten den Abschluss des Buches. Aber man stellt sich nun die Frage, wie es weiter gehen soll. Mit der Welt, mit einem selbst. Was passiert als nächstes? Das können wir wohl nur sehen und erleben, wenn wir weiter in die Zukunft gehen. Die Geschichte taugt nur für Prognosen, nicht für Wahrsagerei.
Mir hat der Durchgang durch unsere Vergangenheit viel Freude bereitet, nicht nur, weil ich dieses Buch von einer außergewöhnlichen Frau geschenkt bekommen habe. Auch die Perspektivwechsel haben mich in meinem Kopf zu vielen Gedankenexperimenten angeregt. Und ich war überrascht, was Ewald Frie seinen (jugendlichen) Lesern für eine Fülle an Informationen bietet. Ein kleiner Wermutstropfen ist, dass man das Buch auch gern doppelt so dick hätte schreiben können. Vieles wird angedeutet, manches Vertraute fehlt. Aber man kann wohl immer mehr schreiben. Dies soll auch gar nicht die Lust an diesem Buch schmälern.
Die Frage Wo komme ich her? kann dieses Buch ein Stück weit beantworten. Wo gehe ich hin? liegt in der Verantwortung eines jeden selbst. Durch dieses Buch wird man viel mehr dazu anregen, sich selbst seine Schneisen durch die Geschichte zu schlagen, neue Blickwinkel einzunehmen und am Ende selbst mit seinem Leben für einen neuen bunten Faden im Teppich der Geschichte sorgen.
Über den Autor:
Kristian steht auf Hochkultur und findet, man sollte sie immer mal in den Alltag einbeziehen. Zurzeit promoviert er in Marburg, einer Stadt voller Bücher.