Die Geschichte der getrennten Wege von Elena Ferrante oder Nachdenken über Herkunft

Als ich den dritten Band der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante „Die Geschichte der getrennten Wege“ las, kam mir immer wieder das Thema Herkunft und Zugehörigkeit in den Sinn. Generell sind Herkunft und Milieu-Zugehörigkeit wichtig für die Neapolitanische Saga, aber in diesem Band sind die Unterschiede darin noch gegenwärtiger als in den ersten beiden Büchern.
Die Geschichte der getrennten Wege
Im ersten und zweiten Band beschrieb Elena Ferrante die Lebensgeschichte von Elena und deren Freundin Lila. Begonnen wurde im ersten Buch bei Elenas und Lilas Kindheit und der zweite Band endete mit Elenas Studienabschluss und der Veröffentlichung ihres ersten Buches. Bei Lila sah es dagegen nicht nach rosiger Zukunft aus: Sie bekam ein Kind und musste es gemeinsam mit Enzo, der nicht einmal der Vater war, in einer ärmlichen Mietswohnung durchbringen.
„Die Geschichte der getrennten Wege“ knüpft an diese Situation an. Auf den ersten Seiten des dritten Bandes wird erzählt, wie Elena sich mit einem ihrer Kommilitonen verlobt und so in eine sehr angesehene Familie einheiratet. Zur gleichen Zeit wird ihr Debütroman zum Bestseller. Das Buch handelt vom Aufwachsen im Rione und ist sehr autobiografisch, was natürlich nicht jedem gefällt. Noch dazu enthält es Sexszenen, welche in der damaligen Zeit (den Siebziger Jahren) schon als skandalös galten. Um es kurz zusammenzufassen, Elena geht es in ihrem Leben so gut wie noch nie, aber Lila hat eine sehr harte Zeit.
Elenas Herkunft
Elena bewegt sich durch ihr Studium, ihren Erfolg als Schriftstellerin und der Ehe mit einem der jüngsten Professoren Italiens in einem ganz anderen Milieu als bisher. Sie hat etwas aus sich gemacht und sich aus der Schäbigkeit des Rione herausgearbeitet. Das ist prinzipiell eine sehr gute Entwicklung, aber es hat auch seine Schattenseiten. Elena gehört nun nirgendswo mehr so richtig dazu. Wenn sie in den Rione zu ihrer Familie fährt, fühlt sie sich fremd. Ihre Eltern verstehen schon längst nicht mehr alles, was in Elenas Leben von Bedeutung ist. Mit jedem Besuch wird der Rione maroder und heruntergekommener.
„Der Rione hatte sich im Gegensatz zu uns gar nicht verändert.“ (Aus: „Die Geschichte der getrennten Wege“ von Elena Ferrante, Seite 19)
Andererseits fühlte sich Elena auch nicht wirklich wie eine gebildete Frau oder gar wie eine kluge und erfolgreiche Autorin. In schwierigen Situationen wurde sie wieder zu dem kleinen Mädchen aus dem Rione. Schließlich hat sie die Bildung nur aus Büchern – sie hat sie sich angelesen, wurde aber nicht so erzogen. Unter größten Anstrengungen hat Elena die Verhaltensweisen von „echten“ Akademikern gelernt und nachgeahmt. Und diese Akademiker waren in der Regel Männer. In der gesamten Saga gibt es kaum weibliche Figuren, die Elena als Vorbild dienen könnten. Die bedeutenden Taten haben in der Regel Männer vollbracht.
„Und niemand wusste besser als ich, was es hieß, seinen Verstand zu vermännlichen, damit er von der Kultur der Männer gebilligt wurde, ich hatte es getan, tat es noch.“ (Aus: „Die Geschichte der getrennten Wege“ von Elena Ferrante, Seite 359)
Nachdenken über Herkunft
Mich bewegt Elenas Ringen um Zugehörigkeit sehr. Aber ich denke, es liegt daran, dass es mir in manchen Teilen ähnlich geht. Glücklicherweise bin ich in keinem Armutsviertel aufgewachsen wie Elena. Jedoch bin auch ich die Erste, die aus meiner Familie studiert hat. Das war keinesfalls immer leicht, denn gerade von den Gepflogenheiten an der Uni hatte ich keine Ahnung und musste sie erlernen und nachahmen. Noch dazu ist der Lernstoff an der Uni ein ganz anderer, als er jemals in der Schule war. Das hat mir keiner zuvor gesagt. Gerade die ersten Semester waren sehr hart für mich und ich habe permanent gelernt und mir kaum Pausen gegönnt. Nebenbei musste ich noch arbeiten, weil meine Eltern mir mein Studium nicht finanzieren konnten. Nach den ersten zwei Unijahren wurde es für mich aber einfacher. Meine Mühen wurden sogar mit einem Stipendium ausgezeichnet und das erleichtert vieles.
Nichtsdestotrotz fühle ich mich noch heute an manchen Tagen wie ein Trickbetrüger, der gar nicht da sein dürfte, wo er ist. Und das Schlimme ist, in schwierigen Situationen geht es mir so wie Elena: Ich werde wieder zur Tochter eines Maurers und bleibe nicht die studierte Betriebswirtin, die ich bin. Im dritten Band hatte Elena noch keine Lösung für unser gemeinsames Problem gefunden und nun hoffe ich sehr stark auf den vierten Band.
Weitere Rezensionen auf anderen Blogs
Elena Ferrante: Die Geschichte der getrennten Wege. Übersetzerin: Karin Krieger. Suhrkamp Verlag. ISBN: 978-3518425756. 540 Seiten. 24,00 €.
Hallo Janine,
erstmal danke fürs Verlinken!
Ein guter Gedanke: Dass es Elena gänzlich an weiblichen Vorbildern fehlt! Daran hatte ich noch gar nicht richtig nachgedacht.
LG, Sabine
Hallo Sabine,
das einzige Vorbild ist Frau Airota meiner Meinung nach. Aber die lernt sie eben erst kennen als sie mit ihrem Mann zusammenkommt. Da ist das gesamte Studium schon vorbei und selbst dann ist Elena zwar voller Bewunderung für Frau Airota, aber was sie sich nun konkret zum Vorbild nehmen könnte, erfährt der Leser auch nicht.
Viele Grüße,
Janine
Ich habe leider erste Band 1 gelesen, aber nach deiner Rezension jetzt sind Band 2 und 3 auf meiner Wunschliste wieder weiter nach oben gerückt. Wie du bin ich die erste in der Familie die studiert hat und jemand, der aus einem Akademikerhaushalt kommt, kann sich gar nicht vorstellen, was das für einen Unterschied machen kann. Du hast recht, man muss sich vieles abgucken, es ist nicht selbstverständlich für einen. Andererseits sehe ich mittlerweile den großen Vorteil: Ich weiß die Intelligenz von „unstudierten“ zu schätzen. Dieses Herabsehen auf Nicht-Akademiker und das Absprechen von Intelligenz ist leider gerade in den Geisteswissenschaften… Weiterlesen »
Hallo Lexa,
mit den Vorurteilen gegenüber Nicht-Akademikern hast du vollkommen recht. Das habe ich auch schon beobachtet, als wäre jemand ohne Studium kein Mensch, den man ernst nehmen könnte. Ich finde das traurig!
Viele Grüße,
Janine
[…] Die Geschichte der getrennten Wege von Elena Ferrante oder Nachdenken über Herkunft […]
Spannend: Für mich war es ganz ähnlich, diese Herkunftsgeschichte hat mich auch sehr bewegt, und sie hat mich auch an mein eigenes Leben erinnert.
Wie du bin auch ich seit mehreren Generationen die Erste in der Familie, die studiert/promoviert hat, und auch ich habe beim Lesen des dritten Ferrante-Bandes so viel wiedererkannt: diese Unsicherheit, ob man das Richtige tut, ob man mit Akademikerkindern mithalten kann etc.
Liebe Grüße an dich!
Hallo infraredhead,
hast du zufällig schon den vierten Band gelesen? Ich habe ihn dieser Tage ausgelesen und er zeigt nochmal eine andere Seite an Elena.
Viele Grüße,
Janine
🙂 Wie hat er dir gefallen?
Im Großen und Ganzen recht gut, auch wenn ich noch nicht weiß, was ich vom Ende halten soll. Außerdem überlege ich, ob ich einen Artikel darüber schreibe und wenn ja, was für einen. 🙂
Schreib mal! Bin gespannt auf deine Meinung!
[…] »Mich bewegt Elenas Ringen um Zugehörigkeit sehr. Aber ich denke, es liegt daran, dass es mir in manchen Teilen ähnlich geht.« – Frau Hemingway […]