Das Manifest des Zorns: GRM von Sibylle Berg lesen

Sibylle Berg ist toll. Ich bin ein großer Fan dieser Frau und mag ihre Art zu schreiben und die Welt zu kritisieren. Die Zeit, bevor ihr neues Buch „GRM“ erschien, ließ sich nur schwer aushalten und dann hatte ich das Buch aber endlich in den Händen. Um meine Vorfreude noch künstlich ein wenig hinauszuzögern, habe ich dann erstmal alle Beiträge von Sibylle Bergs Instagram-Account angeschaut und über die Beiträge herzhaft gelacht. Zum Beispiel über diesen hier:
Was ist GRM?
„GRM“ ist das neue Buch der Autorin Sibylle Berg. Im Buch geht es um vier Kinder in Rochdale (Großbritannien), die gegen die Realität des gescheiterten Staates im Kapitalismus rebellieren. Die Eltern von Don, Hannah, Peter und Karen haben sie schon seit Langem vergessen oder sind sogar tot. Die einzige Flucht aus der Realität ist Grime (kurz: GRM), eine Musikrichtung gemischt aus Hip-Hop und elektronischer Musik, die permanent neue YouTube-Stars hervorzaubert.
Da „GRM“ kein gewöhnliches Buch ist, hatte ich diesmal auch keine Lust auf eine gewöhnliche Rezension mit Text und ein paar Fotos. Stattdessen werde ich meine Gedanken zu manchen Passagen oder Sätzen während des Lesens festhalten. Das passt zu einem Buch von Sibylle Berg ohnehin viel besser, weil viele ihrer Sätze härter und schärfer als jede Axt von Franz Kafka sind.
GRM lesen am 13.4.19

Dass alles schlimmer werden könnte, war damals noch keine Option. Keine Option für ein Kind, denn die Angst vor der Zukunft ist ein Hobby der Alten, die ohnehin keine Zukunft mehr haben.
Aus: GRM von Sibylle Berg, S. 12
Ist die Angst vor der Zukunft wirklich ein Hobby der Alten? Ich bin da skeptisch, denn ich kenne einige Menschen, die ich nicht als alt bezeichnen würde und die dennoch daran glauben, dass es in Zukunft schlechter werden wird. Ich selbst habe während meines Studiums oft mit diesem Glauben gekämpft: Ich hatte Angst, dass ich später keinen Job bekomme oder wenn dann nur einen mit schlechten Bedingungen. Oder ich habe geglaubt, dass es keine bessere Zeit als das Studium im Leben gäbe. Das stimmte nur bedingt.
Nur wenige Seiten später stellt Sibylle Berg die Frage, warum überhaupt Kinder zeugen, wenn man Kinder eigentlich nicht mag und die ohnehin chancenlos sind. Als ich diese Seiten las, musste ich an einen Artikel denken, den ich im Philosophie Magazin 3/19 gelesen habe. Darin wird über Raphael Samuel aus Mumbai berichtet, der seine Eltern verklagt, weil diese ihn ohne sein Einverständnis auf die Welt gebracht haben. Er sieht das Leben als eine Abfolge von Leid und es wäre besser, wenn er nie geboren wäre. Krasse Geschichte.
GRM lesen am 16.4.19
Sie ließ eine Wetter-App darüber entscheiden, was sie tragen sollte, sie bewegte sich ausschließlich mit Google Maps in der Stadt, trackte ihre Bewegungseinheiten, ihren Körperfettanteil und sang mit einer Playback-App zu Grime.
Aus: GRM von Sibylle Berg, S. 63 f.
Nachdem ich diesen Satz in „GRM“ gelesen habe, musste ich kurz innehalten. Ich erledige viel mit dem Smartphone. Das Phänomen mit der Wetter-App kenne ich auch, Google Maps ohnehin und Spotify hat für mich das Radio komplett ersetzt. Gar nicht zu sprechen von Social Media Apps wie Twitter, Instagram und ab und zu Facebook, die für mich bedeutend wichtiger als jede Tageszeitung sind. Für mich sind das auch Recherche-Werkzeuge für Artikel oder um im allgemeinen mehr über ein Buch oder eine Autorin zu erfahren. Heute habe ich zum Beispiel auch wieder auf Sibylle Bergs Instagram-Account geschaut, ob es etwas Neues über „GRM“ gibt. Nicht wirklich, ist aber trotzdem ein bisschen lustig:
GRM nicht-lesen am 18.4.19
Ich hatte heute den eMail-Newsletter von der Spiegel-Bestseller-Liste im Mailpostfach. „GRM“ steigt auf Platz 9 der Hardcover-Liste ein. Freut mich für Sibylle Berg.
GRM lesen am 20.4.19
Die vier Kinder (Don, Hannah, Peter und Karen) müssen so viel mitmachen, werden nur verletzt und teilweise missbraucht. Sie sind verlassen von den eigenen Eltern, vom Staat, im Prinzip von der gesamten Welt. In diesem Sinne ist Sibylle Berg wirklich grausam. Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen, was Don, Hannah, Peter und Karen angetan wird, aber es ist wirklich ungerecht und dieses Leid regt mich beim Lesen auf.
GRM lesen am 21.4.19
Momente des Nichtbeschäftigens, Momente ohne Informationen wurden vom Hirn als vertane Zeit gewertet und mit kleinen depressiven Schüben bestraft.
Aus: GRM von Sibylle Berg, S. 228
Sibylle Berg spricht in ihrem Buch sehr viele Themen bzw. Probleme der Gegenwart an: Informationssammelwut mancher Firmen und des Staates, Umweltverschmutzung, Klimawandel, größer werdende soziale Ungerechtigkeit, Digitalisierung, Grundeinkomen, Sucht nach Anerkennung in den Sozialen Medien, Alkoholismus, Drogen und überhaupt irgendwie alles. Manchmal fühlt es sich so an, als ob die gesamte Welt in „GRM“ gepresst worden wäre und dabei vor allem die schlechten Seiten der Welt. Überhaupt, manche sprechen von „GRM“ als Dystopie. Ich finde nicht, dass „GRM“ eine Dystopie ist, denn die dargestellten Probleme gibt es schon jetzt und nicht erst in der Zukunft.
GRM lesen am 23.4.19
Don, Hannah, Peter und Karen hauen endlich aus Rochdale ab, weil sie den ganzen Mist nicht mehr ertragen können. Sie möchten ihr Glück in London probieren und sich an den Menschen rächen, die ihnen Unrecht angetan haben. Ich hoffe so sehr, dass es ihnen mit dieser Entscheidung besser gehen wird als bisher.

GRM lesen am 24.4.19
Ich habe heute gesehen, dass jetzt schon 3. Auflagen von „GRM“ quasi ausverkauft sind. Der KiWi-Verlag hat deshalb den Hashtag #findyourgrm ins Leben gerufen und man soll doch bitte, auf Buchhandlungen hinweisen, die noch Exemplare des Buchs vorrätig haben. Krass!
GRM lesen am 27.4.19
Das Einzige, was die Leute verbindet, ist, dass es keine Träume mehr gibt.
Aus: GRM von Sibylle Berg, S. 337
Manchmal habe ich gar keine Lust zum Weiterlesen von „GRM“, weil mich das Buch depressiv macht. Ich bin jetzt auf Seite 373. Wenn ich einmal angefangen habe, zu lesen, ist die Geschichte super spannend, aber die Ereignisse im Buch ziehen mich oft runter.
GRM beenden am 3.5.19
Vorhin habe ich gesehen, dass „GRM“ von Sibylle Berg nun sogar Platz 4 der Spiegel-Bestseller-Liste erreicht hat. Chapeau! Ich freue mich für Frau Berg, auch wenn ich nun froh bin, „GRM“ durchgelesen zu haben. Froh aus zweierlei Gründen: Zum einen ist es ein spannendes Buch mit viel Ironie und Witz, aber andererseits schlug mir das Buch auf mein Gemüt. Sibylle Berg ist regelrecht unbarmherzig mit ihren Figuren und auch mit mir als Leserin, denn ein schlechte Nachricht reiht sich an die nächste. Pause mit „guten Erlebnissen“ gibt es so gut wie überhaupt nicht. Das muss man aushalten können und ich bin mir sicher, das kann eben nicht jeder.
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